Traumkristalle
er eine wunderliche Erscheinung. Es bewegte sich darüber ein matter Schimmer, ein Wechsel von blassen Farben, farbigen Bändern, wie sie gebrochene Sonnenstrahlen erzeugen. Was konnte diese Brechung hervorrufen? Kotyledo sah jetzt genau nach dem Felsvorsprung, indem er so weit zur Seite ging, daß ihn die direkten Strahlen der Sonne nicht mehr blendeten. Und was sah er hier? Schwach und schattenhaft, einem leichten Luftgebilde gleich, aber in deutlich erkennbaren Umrissen, wie aus einer lichten Wolke geformt, saß Lyrikas Gestalt dort. Er griff sich an die Stirn, rieb die Augen, um zu sehen, ob er wache. Er veränderte seinen Standpunkt, aber die Erscheinung blieb. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, den Kopf auf die Hand gestützt, so daß er nur einen Teil des feingeschnittenen Profils sah, während Lyrika selbst aufs Meer hinausblickte. Gerade wie an jenem Abend saß sie da, nur die goldene Spange im Haar fehlte – ein Tuch schien den Kopf einzuhüllen. Alles an ihr aber war matt, durchsichtig, es fehlten die natürlichen Farben, und das Gesicht mußte sich anstrengen, die nebelhafte Gestalt zu erkennen; nur die Ränder der Figur zeichneten sich durch schwache Farbenringe aus, die in Violett, Blau, Orange und Rot spielten und eine märchenhafte Wirkung hervorbrachten. Diese reizende, wahrhaft luftige, mit den zartesten Tinten des Regenbogens angehauchte Gestalt über der Meeresbrandung, dahinter den im Abendrot glühenden Himmel – alles dies wirkte auf Kotyledo so überwältigend, daß er lange Zeit wie verzaubert dastand. Jetzt aber regte sich die Gestalt. Sie erhob sich, schwebte auf ihn zu, offenbar ohne zu wissen, daß er sie bemerkte. Jetzt oder niemals! dachte er. Er stürzte auf sie zu, faßte sie in seine Arme – ein Schrei –, es war Lyrikas Stimme. Um so fester hielt er sie, obwohl er sie jetzt so dicht in der Nähe nicht mehr sehen konnte. Der farbige Schimmer der Gestalt war erloschen, aber den Körper hielt er in den Armen, er fühlte deutlich ihre Hand, ja, er glaubte das Pochen ihres Herzens zu vernehmen, als sie sich anstrengte, ihm zu entfliehen. Und jetzt hörte er ihre Stimme, ihre gewohnte, helle, bittende Stimme:
„Laß mich, Kotyledo, laß mich! Ich darf sonst nie wieder zu dir.“
Er wußte nicht, was er tat – er stand wie vom Blitz gerührt.
Seine Arme öffneten sich, er hörte noch: „Leb wohl, leb wohl …“
Wieder griff er um sich – sie war fort.
Seit jenem Tage bestand ein täglicher Verkehr zwischen Kotyledo und Lyrikas Schatten. Nie sah er wieder ihre Gestalt, auch ihre Stimme hörte er selten einmal, und dann nur wenige Worte, die einen herzlichen Gruß, einen beruhigenden Trostspruch enthielten. Das Rätsel löste sich ihm nicht. Unerklärlich war ihm ein häufiges, sich wiederholendes Aufblitzen von Lichtstrahlen, wie der Reflex von geschliffenen Gläsern. Eines Tages bemerkte er in der Luft seines Zimmers ein Blitzen wie von glänzendem Metall. Er blickte hin und sah nun den ihm bekannten Ring Lyrikas in der Luft schweben, gewöhnlich ruhend, dann hin und her gehende Bewegungen machend. Er faßte danach und fühlte Lyrikas Finger. Aber rasch wurden sie ihm entzogen, und nur den Ring behielt er in der Hand. Er glaubte ein Wort des Bedauerns von Lyrika zu hören und legte den Ring neben den Phonograph auf seinen Telegrafiertisch; bald darauf war er verschwunden.
Fast täglich fand er jetzt sein Zimmer wie von Geisterhänden mit frischen Blumen geschmückt, mit diesem seltenen Luxus der Zeit, der ihm zugleich so lieb und teuer war. Oft schwebten Blumen und Kränze direkt durch die Luft zu ihm; er war überzeugt, daß Lyrika sie trug, aber er wagte nicht mehr, nach ihr zu greifen, teils weil er wußte, daß sie es nicht wollte, teils aus Furcht sie zu verletzen, da er ja nicht sehen konnte, wohin sein ausgestreckter Arm reiche. Und daß ihr Körper wie früher undurchdringlich und dem Tastgefühl zugänglich war, wußte er bereits. Mitunter fand er Walzen in seinem Psychokineten eingesetzt, welche von Lyrika bereitet waren und ihm nun unmittelbar ihre Gefühle zuführten. Er empfand da, wie sie mit heißer, unzerstörbarer Liebe an ihm hing, wie sie um das bittere Geschick trauerte, das sie zwang, ihn ewig zu fliehen, und wie sie doch glücklich war in dem Bewußtsein, bei ihm sein zu können, unsichtbar ihn zu umschweben und mit geisterhafter Geschäftigkeit ihm tausend kleine Dienste zu leisten, ja mitunter einen Kuß auf seinen Mund zu hauchen.
Kotyledo fühlte
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