Traumkristalle
Stimmung durch den Psychokineten zu besänftigen; sie konnte wohl ihre Gefühle bemeistern, aber die Erinnerung blieb, es blieb vor allem die Überlegung, die berechnende Überlegung, jetzt nicht mehr beeinflußt von der Leidenschaft des Augenblicks. Darfst du? Das war schließlich die Frage, die sie nicht ruhen ließ, die sie zur Verzweiflung, zum Wahnsinn zu treiben drohte. Und wieder kamen ihr die Worte des Alten in den Sinn:
„Nimm, o nimm die traurige Klarheit,
Mir vom Aug’ den blut’gen Schein!
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
Sterbliches Gefäß zu sein.
Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunklen Sinn …“
Sie durchmaß ihr Zimmer von einem Ende zum andern, vom Boden bis zur Decke, ohne Ruhe zu finden. Schon stieg im Nordosten heller und heller das Frührot auf, und die Straßenbeleuchtung verlosch. Der erste Strahl des Tagesgestirns, der die höchste Zinne des Stadtteils traf, löste durch eine fotochemische Reaktion die Mechanik des großen Orchestrions aus, und durch alle Häuser drang der gewaltige Pauken- und Posaunenton, welcher den anbrechenden Tag verkündete. Wie oft hatte sie dieser Ton zu neuer Tätigkeit geweckt, wie oft hatte sie seit ihrer ersten Kinderzeit diesen machtvollen Klang mit heiligem Ernst vernommen, der jedweden zur Pflicht rief, der, nach der würdigen Sitte der Zeit schon dem Kindergemüt unvergeßlich eingeprägt, eine Mahnung war an den unabwendlich arbeitenden Mechanismus, dem alle gehorchen müssen. Und wie der Klang der Osterglocken durch die Macht der Gewohnheit dem weltüberdrüssigen Faust die Schale von der Lippe zieht, so wirkte das Donnernahen der lebenspendenden Sonne auf Lyrika, das treue Kind ihrer Zeit. Mit einem Male stand es klar vor ihr, daß sie im Begriff sei, eigenem egoistischen Sinn zuliebe den Geliebten zu verderben, an der Menschheit zu freveln, sich dem Weltlauf entgegenzustemmen, und zweifellos schien ihr das Gebot: Du darfst nicht! Und der Entschluß der Entsagung war gefaßt.
Aber wie ihn retten? Wie sich ihm entziehen? Denn er durfte sie nicht mehr sehen – sie fühlte, nur in ihrer Flucht lag die Rettung für sie beide. Wo er sie gefunden hätte, da wäre sie an ihr Wort gebunden gewesen, das er sicher nicht lösen wollte. Lyrika durfte nicht mehr existieren für Kotyledo, und das konnte sie nur, wenn sie aus seiner Machtsphäre verschwand.
Aber wohin, wohin auf dieser allumwanderten, umflogenen, durchwühlten Erde? Wohin?
Ruhelos und angespannt sann sie nach. Dann blitzte ihr ein Gedanke auf – sie sprang behende empor und verließ im Fluge ihre Wohnung.
VII EINE GESPENSTISCHE BRAUT
Vergebens wartete Kotyledo wenige Stunden später am Eingange des Psychäons in den Gärten des Okeanos, wo Lyrika vor der Probe ihn treffen wollte. Eine Stunde verging, ohne daß sie kam, und einen unvorhergesehenen Zwischenfall befürchtend, bestieg Kotyledo einen der zurückfahrenden hydraulischen Trains und befand sich eine Viertelstunde später an Lyrikas Wohnung. Aber auch hier war keine Spur zu finden. Sie habe die Nacht nicht geschlafen und sei am frühen Morgen ausgeflogen, hörte er. In Sorge um Lyrikas Befinden eilte Kotyledo nach der Wohnung Propions. Er traf Funktionata allein und berichtete das Geschehene. Funktionata versuchte noch einmal, Kotyledos Sinn zu ändern, aber sie richtete nichts aus. So versprach sie denn, wiederholt die ganze Rechnung zu prüfen, obwohl sie keine Hoffnung habe. Doch bewunderte sie den Entschluß der Liebenden; er war eine tragische Tat, vor welcher auch der Andersdenkende mit Achtung und Rührung stehen mußte. Von Lyrika wußte sie jedoch keine Auskunft zu geben, und beide begannen ängstlich zu werden.
Während sie sich in Vermutungen erschöpften, flog ein Blatt in das Zimmer. Wer es hereingeworfen hatte, war nicht zu ersehen, doch galt es als keine seltene Erscheinung, daß Briefe im Fluge durchs Fenster geschleudert wurden.
Kotyledo hob das Blatt auf und warf nur einen Blick darauf. Lautlos ließ er es sinken. Funktionata nahm es auf und las:
„Seid unbesorgt. Lyrika ist Euch nahe, doch niemals werdet Ihr sie wiedersehen. Ich darf nicht Dein sein, Kotyledo, und doch bin ich’s. Du aber wirst leben – habe Mut!
Lyrika“
Ratlos sahen sich Funktionata und Kotyledo an. Was sollte das? War Lyrika nicht mehr am Leben? Sie hatte sich geopfert, um nicht ihrem Versprechen untreu zu werden oder Kotyledos Untergang herbeizuführen. Aber ihr Geist sollte bei ihnen
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