Traumkristalle
sein, sollte in Kotyledo fortleben und die Erinnerung ihm Mut zur Arbeit geben. Anders waren wohl die Worte kaum zu verstehen. Und doch wollte Kotyledo seine Hoffnung, die Geliebte wiederzufinden, nicht aufgeben, bis er nicht jeden Winkel der Erde nach ihr durchsucht.
Kotyledo verließ Funktionata und begab sich zuerst zu Propion und Atom, die er in ihrem Laboratorium zu treffen dachte. Ausnahmsweise war die Tür verschlossen, und er mußte eine Zeitlang warten, ehe Propion zum Vorschein kam. Atom, sagte Propion, sei heute noch nicht dagewesen, er habe gerade am Zentraltunnel, der in Afghanistan begonnen wurde, zu tun. In Kotyledo regte sich ein Verdacht gegen Atom. Hielt er Lyrika versteckt? Doch sein Verdacht legte sich bald; denn noch während er mit Propion sprach, kam Atom wieder, und beide zeigten ein aufrichtiges Erschrecken. Sie wußten offenbar von Lyrikas Verschwinden noch nichts. Das Schicksal Lyrikas beschäftigte beide so sehr, daß selbst Atom seine Eifersucht zu vergessen schien und zunächst nur besorgt war, Lyrika aufzufinden. Das war nun freilich auch für ihn die Hauptsache. Alle drei taten sofort die nötigen Schritte bei den Behörden der öffentlichen Ordnung, und es gab keinen Ort oberhalb und unterhalb der Erdoberfläche, wohin nur Menschen zu dringen pflegten, der nicht nach Lyrika durchsucht worden wäre. Weder lebend noch tot war eine Spur zu finden. Nach vier Pentaden {6} gab man die Versuche auf, und auch die näheren Freunde beruhigten sich. Nur Atom und Kotyledo machten eine Ausnahme; sie vergaßen Lyrika nicht, Kokyledo hatte sich zunächst ganz aus dem Verkehr zurückgezogen. Nur selten erschien er im Botanischen Garten, dessen Leitung er vorstand, und besorgte die wichtigsten Geschäfte; sonst wußte man kaum, wo er war. Aber Atom wußte es. Eine Ahnung, was mit Lyrika vorgegangen sei, war ihm allein aufgestiegen, und er hatte Grund, die Bestätigung seiner Vermutung zu erwarten. Aber er bewahrte seinen Verdacht als ein tiefes Geheimnis und beobachtete unausgesetzt heimlich alle Beschäftigungen Kotyledos.
Eine eigentümliche Veränderung hatte mit Kotyledo stattgefunden. Der besonnene, exakte Forscher war fast zu einem Einsiedler geworden, der seine Heimat nicht auf dieser Erde, sondern in geträumten, himmlischen Regionen hat. Ein neues Reich, von den Menschen nicht gekannt und nicht geglaubt, schien sich ihm aufgetan zu haben, das Reich der Geister, in welchem jetzt der Schwerpunkt seines Verkehrs lag. Er wollte es nicht glauben, und doch war es tatsächlich so: Lyrika, von der Erde verschwunden, verkehrte mit ihm noch als Geist.
Oft, wenn er in seinem Zimmer mit Nachdenken beschäftigt saß oder auf einsamen Spazierflügen sich erholte, glaubte er neben sich die Gegenwart Lyrikas zu spüren. Deutlich hörte er ihren leisen Seufzer, einen tiefen Atemzug oder das Rauschen ihres Gewandes, ja, mitunter glaubte er ihre Stimme in sanftem Gesänge zu vernehmen. Anfänglich waren ihm diese Äußerungen einer Verstorbenen im höchsten Grade unheimlich; er konnte sie nicht naturgemäß erklären und mußte sie also für Einbildungen seiner aufgeregten Phantasie halten. Eines Abends hatte er sich nach einer weiteren Spazierfahrt auf jenen Felsenvorsprung niedergelassen, wo er das letzte Mal mit Lyrika zusammen gesessen hatte. Auch jetzt vernahm er sicherlich das Rauschen von Lyrikas Gewand, er fühlte ihren leisen Atem an seiner Wange und ihren Kuß auf seinen Lippen. Er griff mit den Armen in die Leere hinaus, aber es gelang ihm nicht, etwas zu erfassen, schon hatte sie sich ihm entzogen. Nachdenklich starrte er fast eine Stunde lang in die See hinaus. Ist wohl jetzt schon der Augenblick eingetreten, fragte er sich, wo die Rindenschicht deines Gehirns zerfällt? Hat Lyrikas Opfer nichts genützt? Bist du nicht mehr deines Verstandes sicher, und ist es der Wahnsinn, der dir schon seine gespenstischen Gebilde vorgaukelt?
Inzwischen war eine atmosphärische Veränderung eingetreten. Mit Eintritt des herbstlichen Abends hatte der Westwind Feuchtigkeit in großem Maßstabe herbeigeführt; die Durchsichtigkeit der Luft hatte zugenommen, und tiefdunkel, scheinbar mit Händen zu greifen, erstreckten sich die entfernten Berge am Horizont. Die Sonne lag im Untergehen mit schrägen Strahlen auf der Felswand, die Kotyledo trug. Den Schatten eines kleinen Felsvorsprungs vor ihm warf sie gerade neben ihn auf den Fels. Als er seinen Blick zufällig auf die Spitze dieses Schattens richtete, bemerkte
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