Traumkristalle
Rechnung aufnehmen; ihr mußtet beobachten und sammeln, und nur durch Erfahrung könnt ihr die Kenntnis gewinnen, die euch mächtig macht. Und darin müßt ihr fortfahren, ihr habt kein anderes Mittel, denn euer Denken ist nicht anders fähig, die Welt zu erkennen. Sie ist euch nur zugänglich in Raum und Zeit und Notwendigkeit, und so müßt ihr gehorchen.
Wir aber bedurften zwei Jahrtausende lang nichts von der Natur, als was sie uns von selbst schenkte. Hier gab es keine darbende und unwissende Menge, keine habgierige und übermütige Gesellschaft, keine Herren und Sklaven, sondern nur eine bescheidene Anzahl gleichmäßig harmonisch durchgebildeter, sich selbst beschränkender Menschen. Wir bedurften keiner Teilung der Arbeit und keiner Fachkenntnisse, wir begnügten uns mit dem, was jeder verstehen konnte. Und so kamen wir auf einem ganz anderen Wege als ihr zur Kultur, die ihr bei uns erblickt, und zu Erfindungen und Bequemlichkeiten, die ihr nicht kennt. Jetzt freilich seht ihr hier Prachtbauten und tausenderlei Verfeinerungen, aber jeder macht nur freiwillig, was er gerade kann und will, und wir sind jetzt so weit in der Kultur des Bewußtseins, daß jeder den Gesamt-Zusammenhang und sich selbst begreift, daß Pflicht und Wunsch in des Apoikiers Seele nicht mehr getrennt bestehen. Wir sind nicht Sklaven der Sitte, wie die Naturvölker, nicht Herren der äußeren Natur, wie die gesitteten Nationen Europas, wir sind nur Herren von uns selbst, Herren unseres Willens, Herren des Bewußtseins überhaupt, und darum sind wir frei. Uns stört keine Sorge um darbende Völker, noch um eigennützige Tyrannen, wir haben keine Gesetze, denn jeder trägt das Gesetz in sich selbst. Wir haben keine Naturwissenschaft und keine Industrie in eurem Sinne, wir brauchen der Natur keine Geheimnisse abzulauschen und ihre Kräfte nicht in unseren Dienst zu zwingen. Die Entwicklung unsres Geistes, frei von dem Druck der europäischen Millionen, ging einen anderen Weg. Bei uns folgte auf Platon kein Aristoteles, keine Scholastik, kein Dogmatismus, so brauchten wir keinen Galilei, keinen Newton, keinen Darwin. Wir hatten keine Römerherrschaft, keine Völkerwanderung, kein Feudalsystem, so brauchten wir keine Revolution. Zu der Zeit, da Achaja römische Provinz wurde, da lehrte man bei uns was euch Kant und Schiller offenbarten. Als die christlichen Märtyrer in den Gärten Neros brannten, da emanzipierte sich unser Denken von den Schranken der Sinnlichkeit und lernte seine Bedingungen im Absoluten kennen. Als in euren Klosterschulen die spärlichen Reste der Neuplatoniker studiert wurden, da hatte man bei uns die Metaphysik als empirische Wissenschaft begründet. Und während eure Metaphysiker sich lustige Wolkenbauten im unbeschränkten Reich der Träume errichteten, da hatten wir die inneren Wesensbedingungen des Bewußtseins erfaßt und das Geheimnis der Schöpferkraft uns angeeignet. Was ihr nun messend und wägend und rechnend an Entdeckungen und Erfindungen der Natur abringt, das schaffen wir, nachdem sich unser Verstand aus seinen Fesseln befreit und in Intuitivkraft gewandelt hat, aus unserem eigenen Selbst in freier Wahl. In unserer Welt besteht kein Gegensatz von Zwang und Freiheit. Wollen, Sollen und Können sind nicht mehr getrennt. Und das haben wir errungen durch die alleinige Pflege des wollenden, fühlenden und denkenden Bewußtseins. Ihr konntet es nicht, denn ihr mußtet Völker ernähren und Kriege führen.
In den äußeren Formen haben wir die Überlieferungen unserer Vorfahren festgehalten, so weit sie uns passend erschienen; schönere haben wir bei euch nirgends gefunden. Seit den letzten beiden Jahrhunderten, in denen, wenn auch selten, sich hie und da Schiffe in unseren Gewässern zeigten, haben wir uns auch um die Geschichte der übrigen Menschheit gekümmert. Wir senden alle zehn Jahre einen Erwählten nach Europa, die Zeit Verhältnisse zu studieren. Ich war der Letzte, der drüben war, und dabei lernten wir uns kennen. Wir verschweigen die Existenz unseres Staates, denn wir würden nicht verstanden werden und wollen nicht gestört sein.“
„Und fürchtet ihr nicht“, fragte ich, „daß Europäer euch entdecken, daß sie eure kleine Insel in Besitz nehmen und eure Freiheit unterdrücken?“ Mein Freund lächelte wieder. „Ich sehe“, sagte er, „du hast unser Wesen noch immer nicht begriffen. Frage dich doch, konntest du dem Winke des Apoikiers widerstehen, der dich zur Stadt führte? So wenig, als
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