Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
nichts grauenhaftes, sondern natürliches zuckt er mit den Achseln und schiebt sich den letzten Rest seines Essens in den Mund.
»Beeil dich lieber.«
Gehorsam schlingt Hailey ihr Essen hinunter und sieht ihn dann fragend an.
»Also«, Hailey schluckt schwer, »warum bin ich hier?«
»Weil du nicht träumst.«
Überrascht und panisch zugleich blickt Hailey sich um.
»Hier drinnen ist es egal, ob es jemand weiß. Verraten kann dich niemand mehr.«
»Das ist es nicht«, zischt Hailey wütend, »sie sollen mich nicht für einen Freak halten.«
»Süße, zum Tode verurteilte Menschen haben sicherlich andere Dinge im Kopf, als sich über jemanden lustig zu machen.«
Beschämt beißt sich Hailey auf die Unterlippe und senkt den Kopf.
»Aber woher weißt du das denn?«, flüstert sie und zuckt zusammen, als Caleb in einer normalen Lautstärke antwortet: »Dein Blick. Wir hatten schon einige hier, die so waren wie du. Sie hatten alle diesen Blick.«
»Welchen Blick?«
»Voller Angst, Selbsthass und Trauer.«
»Wie meinst du das?«, bohrt Hailey nach.
»Hast du schon einmal in deine eigenen grünen Augen geschaut? Anscheinend nicht, sonst wüsstest du, was ich meine.«
Die Wahrheit ist, dass Hailey genau weiß, wovon Caleb spricht. Sie kennt diesen Blick und hat sich schon das ein oder andere Mal fast selbst darin verloren. In dieser Dunkelheit, in Selbstzweifeln.
Manchmal erwischte sie sich sogar dabei, wie sie stundenlang vor dem Spiegel stand und sich selbst in die Augen starrte, bis das Heimkommen ihrer Mutter das Abdriften verhinderte.
»Mmh ...«, stimmt sie schließlich halbherzig zu. »Bis jetzt ist das niemandem aufgefallen. Nicht einmal meiner besten Freundin.«
Der letzte Satz stimmt nicht ganz, denn immerhin wusste Macy um Haileys Geheimnis und hat sich vermutlich deshalb nie über ihren Blick gewundert.
»Weil Menschen niemandem gerne in die Augen schauen. Sie haben zu große Angst davor, was sie dort erblicken könnten.«
Hailey wird schmerzhaft klar, dass Caleb Recht hat. Schon lange hat ihr niemand mehr in die Augen gesehen. Wenn sie darüber nachdenkt, war es bisher nur Macy, die ihrem Blick standhalten konnte. Macy und sie selbst. Sogar ihre eigene Mutter ist Hailey immer ausgewichen.
»Und wo sind sie?«
»Wer?«
»Na ... die anderen.«
»Ach soooooo«, erwidert Caleb gedehnt und kratzt sich hinter dem Ohr, als wäre ihm die Situation unangenehm.
»Die Sache ist die ... ach, wie bringe ich dir das am besten bei? Also –«
»Sie sind tot«, vollendet Hailey seinen Satz und auf einmal ist es Caleb, der panisch seinen Zeigefinger auf die Lippen presst, um Hailey zu zeigen, dass sie still sein soll.
»Wir dürfen nicht über die Gegangenen sprechen.«
»Die Gegangenen?«
»Na, die, die nicht mehr hier sind.«
»Und diejenigen, die wie ich waren, sind schon alle gegangen?«
»Sie gehen immer früher als alle anderen.«
»Das sind ja tolle Aussichten!«, flucht Hailey und Caleb zieht schuldbewusst den Kopf ein.
»Du wolltest doch die Wahrheit wissen, oder?«
»Natürlich wollte ich die Wahrheit wissen.«
»Manchen Leuten sind Lügen lieber«, entgegnet er achselzuckend und erhebt sich.
Entgegen ihrer Grundsätze schließt Hailey seine wirre Persönlichkeit langsam ins Herz. Scheint Caleb zunächst wie ein Fünfjähriger zu denken, so sagt er im nächsten Moment einen Satz, der Haileys Weltbild ins Wanken bringt.
»Das stimmt allerdings.«
»Du musst dein Tablett zurückbringen«, raunt er ihr zu und sofort steht Hailey auf und folgt Caleb zu einem Fließband, das in ein schwarzes Loch in der Wand führt und den Abfall verschluckt wie ein hungriges Monster.
Als sie sich wieder der Tür zu den Zellen nähern, wird Hailey plötzlich nervös.
»Wann sehen wir uns wieder?«
Die Vorstellung, jetzt allein zu sein, scheint ihr unerträglich und unwillkürlich greift sie nach Calebs Arm. Nachsichtig löst der er sich von Hailey und schenkt ihr ein warmes Lächeln.
»Wenn ich Glück habe zum Abendessen.«
»Was meinst du damit?«
Panik breitet sich in Haileys Körper aus und brennt wie ein heißes Feuer in ihrer Brust. Ihre Finger zittern, als sie erneut nach Caleb greifen möchte, dieser sich aber geschickt ihrer Berührung entzieht.
»Wir wissen nie, wann es an der Zeit ist, zu gehen.«
Seine Stimme klingt locker und entspannt, als würde er über das Wetter plaudern. Gerade dieser Umstand macht es Hailey noch schwerer, den Sinn der Worte zu begreifen.
»Sie könnten jeden
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