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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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schlendern sah. Es ist dem Emir hoch anzurechnen, daß er sie gehen ließ.
    Was, fragte ich die Frauen, war das Geheimnis ihres berühmten Lächelns?
    »Fleisch!« riefen sie fröhlich und knirschten gemeinsam mit den Zähnen. »Fleisch gibt uns unser schönes Lächeln. Wir kauen das Fleisch und können nicht anders als lächeln.«
    In dem kleinen weißen Zelt, das aus Streifen von Sudanbaumwolle zusammengenäht war, lebte eine alte Frau mit zwei Hunden und einer Katze. Sie hieß Lemina. Sie war sehr alt, als der Schweizer ungefähr zwanzig Jahre zuvor zu ihnen gekommen war. Der Polizist sagte, sie sei über hundert.
    Groß und ungebeugt, in Blau, kam sie durch die Dornenbäume auf die Ursache der Aufregung zu.
    Mahfould erhob sich, um sie zu begrüßen. Sie war taubstumm. Sie standen vor dem dunkelnden Himmel und gestikulierten mit den Fingern in Zeichensprache. Ihre Haut war weiß, wie ein Blatt Seidenpapier. Ihre Augen waren verschattet und trüb. Sie lächelte, streckte mir ihre welken Arme entgegen und stieß eine Reihe zwitschernder Töne aus.
    Sie lächelte volle drei Minuten. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, brach einen Zweig von einer Akazie und ging zu ihrem Zelt zurück.
    Unter diesen hellhäutigen Menschen war der Neger der Außenseiter. Ich fragte, wie es dazu gekommen war, daß er sich ihnen angeschlossen hatte.
    »Er war allein«, sagte Mahfould. »Deshalb ist er zu uns gekommen.«
    Dann erfuhr ich von dem Polizisten, daß ein Mann sich den Nemadi anschließen konnte, eine Frau nicht. Doch da ihre Zahl so gering war und kein Außenstehender mit Selbstachtung sich herablassen würde, eine Mesalliance einzugehen, hatte diese Frauen immer ein wachsames Auge auf »frisches weißes Blut«.
    Eine der jungen Mütter, ein ernstes, schönes Mädchen mit einer blauen Baumwollkapuze auf dem Kopf, stillte einen Säugling. Sie war mit dem Jäger verheiratet. Man hätte sie für fünfundzwanzig halten können; doch als ich den Namen des Schweizer Ethnologen erwähnte, grinste der Ehemann, zeigte auf seine Frau und sagte: »Wir haben eins von ihm.«
    Er legte seine Schnitzarbeit nieder und pfiff zum zweiten Lager hinüber. Kurz darauf kam ein geschmeidiger junger Mann mit bronzener Haut und glitzernden grünen Augen mit zwei Hunden und einem Jagdspeer durch die Büsche. Er trug einen kurzen ledernen Lendenschurz. Sein Haar war rotblond und geschnitten wie ein Hahnenkamm. Kaum hatte er den Europäer gesehen, senkte er den Blick.
    Er setzte sich wortlos zwischen seine Mutter und seinen Stiefvater. Man hätte sie für die Heilige Familie halten können.
    Als ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte, erhob sich Arkady ohne Kommentar und sagte: »Wir machen uns besser auf den Weg.« Wir vergruben die Abfälle und gingen zum Wagen zurück.
    »Sie mögen es lächerlich finden«, sagte ich, um eine Reaktion von ihm zu bekommen. »Aber ich lebe mit dem Lächeln jener alten Frau.«
    Das Lächeln, sagte ich, sei wie eine Botschaft aus dem Goldenen Zeitalter. Es habe mich gelehrt, alle Argumente, die für die Schlechtigkeit der menschlichen Natur sprächen, unverzüglich zurückzuweisen. Der Gedanke, zu einer »ursprünglichen Einfachheit« zurückzukehren, sei nicht naiv oder unwissenschaftlich oder realitätsfremd.
    »Verzicht«, sagte ich, »selbst zu einem so späten Zeitpunkt, ist eine Möglichkeit.«
    »Da stimme ich zu«, sagte Arkady. »Wenn die Welt noch eine Zukunft hat, dann ist es eine asketische Zukunft.«

26
    I m Polizeirevier in Popanji standen zwei Aborigine-Mädchen in schmutzigen geblümten Kleidern am Tresen und legten vor dem diensthabenden Polizeibeamten einen Eid ab. Sie brauchten seinen Dienststempel, um Fürsorge beantragen zu können. Sie hatten ihn beim Gewichtheben unterbrochen.
    Er nahm die Hand des größeren Mädchens und legte sie auf die Bibel.
    »Recht so«, sagte er. »Und jetzt sprich mir nach, was ich sage. Ich, Rosie …«
    »Ich, Rosie …«
    »Schwöre beim allmächtigen Gott …«
    »Schwöre beim allmächtigen Gott …«
    »Das reicht«, sagte er. »Jetzt bist du an der Reihe, Myrtle.«
    Der Polizist griff nach der Hand des anderen Mädchens, aber sie krümmte sich und entzog sie seinem Griff.
    »Komm schon, Herzchen«, sagte er mit honigsüßer Stimme. »Kein Grund, verrückt zu spielen.«
    »Los, mach schon, Myrtle«, sagte ihre Schwester.
    Aber Myrtle schüttelte heftig den Kopf und verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken. Jetzt löste Rosie sanft den Zeigefinger ihrer

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