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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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weniger ein Stamm als eine Kaste von Jägern. Es waren die Nemadi.«
    »Und was jagten sie?«
    »Oryx- und Addaxantilopen«, sagte ich. »Mit Hunden.«
    In der Stadt Oualata, früher Hauptstadt des Almorawiden-Reichs und jetzt ein Wirrwarr aus blutroten Innenhöfen, lag ich dem Gouverneur ganze drei Tage damit in den Ohren, mir die Genehmigung für einen Besuch bei den Nemadi zu erteilen.
    Der Gouverneur, ein griesgrämiger Hypochonder, hatte sich nach jemandem gesehnt, mit dem er seine Erinnerungen an seine Studentenzeit in Paris teilen oder Dogmen der pensée maotsétungienne erörtern konnte. Seine Lieblingswörter waren tactique und technique , aber sobald ich die Nemadi zur Sprache brachte, entwich ihm ein sprödes Lachen, und er murmelte: »Es ist verboten.«
    Wenn wir unser Kuskus aßen, brachte uns ein Lautenspieler mit rosigen Fingern ein Ständchen, während der Gouverneur unter meiner Mitwirkung eine Karte von den Straßen im Quartier latin anfertigte. Von seinem Palast aus – wenn vier Räume aus Lehmziegeln ein Palast waren – konnte ich ein kleines weißes Zelt der Nemadi sehen, das mich auf die andere Seite des Hügels lockte.
    »Warum wollen Sie diese Leute bloß sehen?« schrie mich der Gouverneur an. »Oualata, ja! Oualata ist ein historischer Ort. Aber diese Nemadi sind nichts. Sie sind ein schmutziges Volk.«
    Sie waren nicht nur schmutzig, sie waren eine nationale Schande. Sie waren Ungläubige, Idioten, Diebe, Parasiten, Lügner. Sie aßen verbotene Nahrung.
    »Und ihre Frauen«, fügte er hinzu, »sind Prostituierte!«
    »Aber schön?« unterstellte ich, und sei es nur, um ihn zu ärgern.
    Seine Hand schoß aus den Falten seines blauen Gewandes hervor.
    »Ha!« drohte er mir mit dem Finger. »Jetzt weiß ich es! Jetzt habe ich verstanden! Lassen Sie sich von mir sagen, junger Engländer, daß diese Frauen schreckliche Krankheiten haben. Unheilbare Krankheiten!«
    »Da habe ich was anderes gehört«, sagte ich.
    An unserem dritten gemeinsamen Abend, nachdem ich ihn mit dem Namen des Innenministers eingeschüchtert hatte, gab es Anzeichen dafür, daß er nachgiebiger wurde. Beim Lunch am Tag darauf sagte er, es stehe mir frei, zu ihnen zu gehen, vorausgesetzt, daß ich von einem Polizisten begleitet würde, und vorausgesetzt, daß ich nichts täte, was sie zum Jagen anspornen könne.
    »Sie dürfen nicht jagen«, brüllte er. »Haben Sie mich verstanden?«
    »Ich habe Sie verstanden«, sagte ich. »Aber sie sind Jäger. Sie haben schon vor dem Zeitalter des Propheten gejagt. Was können sie tun außer jagen?«
    »Jagen«, sagte er und faltete theatralisch seine Finger, »ist laut Gesetz unserer Republik verboten.«
    Ein paar Wochen vorher, in die Literatur über die Nomaden der Sahara vertieft, war ich auf einen Bericht über die Nemadi gestoßen, der auf den Entdeckungen eines Schweizer Ethnologen basierte und in dem sie als »eines der notleidendsten Völker der Erde« eingestuft wurden.
    Ihre Zahl wurde auf etwa dreihundert geschätzt, und sie wanderten in Gruppen von rund dreißig am Rand des El Djouf entlang, der »Leeren Region der Sahara«. Dem Bericht zufolge hatten sie helle Haut und blaue Augen und gehörten dem achten und untersten Rang der maurischen Gesellschaft an, »Ausgestoßene der Wildnis« – niedriger als die Harratin, die als schwarze Sklaven im Ackerbau arbeiteten.
    Die Nemadi kannten weder Nahrungstabus noch Ehrfurcht vor dem Islam. Sie aßen Heuschrecken und wilden Honig und Wildschweine, wenn sich die Gelegenheit bot. Manchmal erhielten sie von den Nomaden einen Hungerlohn dafür, daß sie ihnen tichtar verkauften, getrocknetes Antilopenfleisch, das, als Krümel zum Kuskus gegeben, diesem den Geschmack von Wild verleiht.
    Die Männer verdienten ein bißchen Geld dazu, indem sie Sattelrahmen und Milchschalen aus Akazienholz schnitzten. Sie behaupteten, die rechtmäßigen Besitzer des Landes zu sein, das die Mauren ihnen weggenommen hätten. Weil die Mauren sie als Parias behandelten, waren sie gezwungen, weit von der Stadt entfernt ihre Zelte aufzuschlagen.
    Was ihre Herkunft angeht, so waren sie wahrscheinlich Überlebende einer jagenden Population der mittleren Steinzeit. Fast sicher ist, daß sie die »Messufiten« waren, von denen einer – blind auf einem Auge und halb blind auf dem andern – Ibn Battuta 1357 durch die Sandwüste führte. »Die Wüste hier«, schrieb der Weltreisende, »ist schön und strahlend, und die Seele findet ihren Frieden. Antilopen sind

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