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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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zogen die Bauern bergabwärts in das Schwemmland, aus dem sich die ersten Städte erheben sollten. Die Hirten dagegen zogen in das sommerliche Hochland und gründeten ihre eigene rivalisierende Ordnung.
    *
     
    Der Amoriter, der kein Korn kennt … Ein Volk, dessen Ansturm wie ein Orkan ist … Ein Volk, das nie eine Stadt gekannt hat …
    Sumerischer Text
    *
    Ouissa, Air-Gebirge, Niger
    Der Garten war kreisrund. Seine Erde war schwarz. Er war von einer Dornenhecke umgeben, um den Kamelen und Ziegen den Zugang zu verwehren. In der Mitte standen zwei uralte Dattelpalmen zu beiden Seiten des Brunnenschachts und einer Zisterne.
    Vier Bewässerungsgräben unterteilten den Garten in Viertel. Die Viertel waren jeweils in ein Labyrinth von Gemüsebeeten unterteilt und mit Erbsen, Bohnen, Zwiebeln, Möhren, Grüngemüse, Kürbissen und Tomaten bepflanzt.
    Der Gärtner war ein schwarzer Sklave, nackt bis auf einen Lendenschurz. Er war ganz auf seine Arbeit konzentriert. Er zog den Ledereimer aus dem Schacht und schaute zu, wie das Wasser durch das Labyrinth rann. Wenn ein Beet genügend bewässert war, versperrte er den Kanal mit seiner Hacke und leitete das Rinnsal zum nächsten um.
    Etwas weiter talaufwärts waren andere runde Dornenhekken, in die die Tuareg nachts ihre Ziegen trieben.
    Der Neger, der über die Sämlinge herrscht, hat die gleiche Bestimmung wie die ersten Diktatoren. Sumerischen und ägyptischen Archiven kann man entnehmen, daß die ersten Herrscher der Zivilisation sich als »Herren der befruchtenden Wasser« sahen, die ihren erschlaffenden Untertanen entweder Leben brachten oder den Hahn abdrehten.
    *
    Abel, mit dessen Tod die Kirchenväter den Märtyrertod Christi vorweggenommen sahen, war Schafhirte. Kain war ein seßhafter Bauer. Abel wurde von Gott bevorzugt, weil Jahwe selbst ein »Gott des Weges« war, dessen Ruhelosigkeit andere Götter ausschloß. Doch Kain, der die erste Stadt bauen sollte, wurde die Herrschaft über ihn versprochen.
    Ein Vers des Midrasch, der den Streit kommentiert, besagt, daß Adams Söhne beide einen gleichwertigen Teil der Welt erbten: Kain erhielt das Anrecht auf alles Land und Abel auf alle lebenden Wesen – worauf Kain seinem Bruder Abel »unbefugtes Betreten« zur Last legte.
    Die Namen der Brüder sind ein aufeinander abgestimmtes Paar von Gegensätzen. Abel stammt vom hebräischen hebel, das »Atem« oder »Dampf« bedeutet – alles, was lebt und sich bewegt und vergänglich ist, das eigene Leben eingeschlossen. Die Wurzel von »Kain« scheint das Verb kanah zu sein: »erwerben«, »bekommen«, »eigener Besitz«, und auch »Herrschaft« oder »unterjochen«.
    »Kain« bedeutet auch »Metallschmied«. Und da die Wörter für »Gewalt« und »Unterjochung« in mehreren Sprachen, sogar im Chinesischen, mit der Entdeckung von Metall zusammenhängen, ist es vielleicht das Schicksal Kains und seiner Nachkommen, die »Schwarze Kunst« der Technik zu praktizieren.
    Eine mögliche Synopse des Mords:
    Kain ist ein fleißiger Mann, gebeugt vom ständigen Graben. Der Tag ist heiß und wolkenlos. Adler schweben hoch oben im Blau. Die letzte Schneeschmelze stürzt noch in Kaskaden talwärts, doch die Berghänge sind schon braun und verdorrt. Fliegen kleben in seinen Augenwinkeln. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und nimmt seine Arbeit wieder auf. Seine Hacke hat einen hölzernen Stiel, an dem ein Steinblatt befestigt ist.
    Irgendwo weiter oben am Hang ruht sich Abel in der Kühle eines Felsens aus. Er trillert auf seiner Flöte: immer wieder dasselbe eindringliche Trillern. Kain hält inne, um zu lauschen. Schwerfällig richtet er sich auf. Dann hebt er die Hand gegen das grelle Licht und blickt auf seine Felder längs des Flusses. Die Schafe haben die Arbeit eines Morgens zertrampelt. Er hat keine Zeit, nachzudenken, und beginnt zu lau fen …
    Eine weniger entschuldbare Version der Geschichte lautet, daß Kain Abel auflauerte und einen Stein auf seinen Kopf schleuderte – in dem Fall ist der Mord die Frucht angestauter Bitterkeit, von Neid und Sehnsucht: der Sehnsucht des Gefangenen nach der Freiheit weiter Räume.
    Jahwe erlaubt Kain, Sühne zu leisten, wenn er nur den Preis zahlt. Er verweigert ihm die »Früchte der Erde« und zwingt ihn, »den Flüchtigen und Umherirrenden«, in das Land Nod zu wandern. »Nod« bedeutet »Wildnis« oder »Wüste«, wo Abel einst vor ihm gewandert war.
    *
    »Travel«: das gleiche Wort wie »travail« – »körperliche oder

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