Traumpfade
sollt niemals Wein trinken und kein Haus bauen, keinen Samen säen, keinen Weinberg pflanzen noch besitzen, sondern ihr sollt in Zelten wohnen euer Leben lang, auf daß ihr lange lebet in dem Lande, in dem ihr umherzieht.
Jeremia 35,6 – 7
Allein die Rechabiter entkamen, weil sie ihre taktische Mobilität bewahrten, den Greueln des Belagerungskrieges.
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Im Muqaddimah, der »Weltgeschichte« von Ibn Chaldun, einem Philosophen, der die menschliche Natur vom Standpunkt eines Nomaden betrachtete, lesen wir:
Die Wüstenvölker sind dem Gutsein näher als seßhafte Völker, weil sie dem Urzustand näher sind und ferner von den üblen Gewohnheiten, die die Herzen der Seßhaften verdorben haben.
Unter »Wüstenvölkern« versteht Ibn Chaldun Beduinen wie jene, die er in den Tagen seiner kriegerischen Jugend aus dem Innern der Sahara als Söldner angeworben hatte.
Jahre später, nachdem er in die Schlitzaugen Timurs geblickt und mit eigenen Augen Schädelberge und schwelende Städte gesehen hatte, ergriff auch ihn, wie die Propheten des Alten Testaments, die furchtbare Angst vor der Zivilisation, und er dachte mit Sehnsucht an das Leben in den Zelten zurück.
Ibn Chaldun gründete seine Theorie auf die Annahme, daß Menschen moralisch und physisch verkommen, wenn es sie in die Städte treibt.
Die harten Bedingungen der Wüste, vermutete er, waren dem verweichlichten Leben in den Städten vorausgegangen. Die Wüste war folglich ein Reservoir der Zivilisation, und Wüstenvölker waren Seßhaften gegenüber im Vorteil, weil sie genügsamer, freier, mutiger, gesünder und weniger überheblich, weniger ängstlich waren, weniger dazu neigten, sich korrupten Gesetzen zu unterwerfen, und insgesamt leichter geheilt werden konnten.
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Kloster von Simonaspetras, Berg Athos
Ein junger Ungar, erschöpft vom Aufstieg zum heiligen Berg, kam und setzte sich auf die Terrasse und blickte auf die stürmische See unter uns. Er war ausgebildeter Epidemiologe, hatte seine Stellung jedoch aufgegeben, um die heiligen Berge der Welt zu besteigen. Er hoffte, daß er den Berg Ararat erklimmen und den Berg Kailas in Tibet umrunden könnte.
»Der Mensch«, sagte er plötzlich und unvermittelt, »war nicht dazu bestimmt, seßhaft zu werden.«
Das hatte er bei seinem Studium der Epidemien gelernt. Die Geschichte der Seuchenkrankheiten war eine Geschichte von Menschen, die sich in ihrem eigenen Dreck suhlten. Auch war er zu dem Schluß gekommen, daß Pandoras Büchse mit den Übeln eine neolithische Urne aus Ton gewesen war.
»Täuschen Sie sich nicht«, sagte er. »Es wird Epidemien geben, neben denen Atomwaffen sich wie nutzlose Spielzeuge ausnehmen werden.«
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»Es war keine sommerliche Reise (progress). Sie hatten Kälte davon, zu dieser Jahreszeit; ja, es war die schlimmste Zeit des Jahres, um eine Reise zu unternehmen, und insbesondere eine lange Reise.«
Lancelot Andrews, 1622
Im Mittelenglischen bedeutete das Wort progress eine »Reise«, insbesondere eine »saisonbedingte Reise« oder »Rundreise«.
Ein progress war die Rundreise eines Königs zu den Schlössern seiner Peers, eines Bischofs in alle seine Diözesen, eines Nomaden zu allen seinen Weideflächen, eines Pilgers zu einer Reihe von heiligen Stätten. »Moralische« oder »materielle« Seiten des Fort-Schritts waren bis zum siebzehnten Jahrhundert unbekannt.
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Im Tibetischen ist die Definition eines »Menschen« a-Gro ba: ein »Geher«, »einer der auf Wanderung geht«. Ähnlich ist ein arab (oder bedu ) ein »Zeltbewohner«, im Gegensatz zum hazar, »der in einem Haus lebt«. Doch hin und wieder muß sogar ein bedu seßhaft werden, abhängig von einem Wüstenbrunnen während der heißen, trockenen Jahreszeit im August – dem Monat, der seinen Namen dem Ramadan gab (von rams, »brennen«).
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Alles in allem gibt es nur zwei Arten von Menschen auf der Welt – solche, die zu Hause bleiben, und solche, die es nicht tun.
Kipling
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Doch könnte das eine Frage saisonbedingter Veränderungen sein …
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Wenige Gegenden kennen keine magere Jahreszeit: eine Zeit der Qual und der erzwungenen Tatenlosigkeit, wenn die Menschen am anfälligsten und die Raubtiere am hungrigsten sind. (Ramadan bedeutet auch »die Zeit der Bestien«.) In seinem Essay über die saisonbedingten Fluktuationen von Eskimogesellschaften stellt Marcel Mauss das reiche, »gottlose« Sommerleben in den Zelten den hungrigen, »spirituellen« und emotional aufgeladenen Aktivitäten der
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