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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Wien
    Er war unterwegs, um seinen alten Vater zu besuchen, der Rabbiner in Wien war. Er war klein und dick. Er hatte durchscheinende, weiße Haut und ingwerfarbene Schläfenlöckchen, und er trug einen langen Sergemantel und einen Biberhut. Er war sehr schüchtern. Er war so schüchtern, daß er es unmöglich fand, sich in Gegenwart eines anderen im Abteil auszuziehen. Der Schlafwagenschaffner hatte ihm versichert, er würde allein sein.
    Ich bot an, in den Gang hinauszugehen. Der Zug fuhr durch einen Wald. Ich öffnete das Fenster und atmete den Duft von Kiefern ein. Als ich zehn Minuten später zurückkam, lag er auf der oberen Bettstelle, entspannt und begierig zu erzählen.
    Sechzehn Jahre lang hatte er an einer talmudischen Akademie in Brooklyn studiert – er hatte seinen Vater seither nicht gesehen. Der nächste Tag würde sie vereinen.
    Vor dem Krieg hatte seine Familie in Sibiu in Rumänien gelebt, und als der Krieg ausbrach, hofften sie, in Sicherheit zu sein. Dann, im Jahr 1942, malten die Nazis einen Stern an ihr Haus.
    Der Rabbiner rasierte sich den Bart und schnitt seine Schläfenlocken ab. Seine christliche Dienstmagd besorgte ihm Bauernkleidung: einen Filzhut, eine gegürtete Bluse, eine Schaffelljacke und Stiefel. Er umarmte seine Frau, seine beiden Töchter und den kleinen Sohn – alle vier sollten in Birkenau umkommen. Er nahm seinen Erstgeborenen auf den Arm und stürzte davon in die Wälder.
    Der Rabbiner ging mit seinem Sohn durch die Birkenwälder der Karpaten. Schäfer beherbergten sie und gaben ihnen Fleisch. Die Art und Weise, wie die Schäfer Schafe schlachteten, verletzte seine Prinzipien nicht. Schließlich überquerten sie die türkische Grenze und machten sich auf die Reise nach Amerika.
    Der Rabbiner fühlte sich in Amerika nie wohl. Er konnte mit dem Zionismus sympathisieren, brachte es jedoch nicht über sich, sich den Zionisten anzuschließen. Israel war eine Idee, kein Land. Wo die Thora war, da war auch das himmlische Königreich. Er war verzweifelt nach Europa aufgebrochen.
    Jetzt würden Vater und Sohn nach Rumänien zurückkehren, denn der Rabbiner hatte vor nur wenigen Wochen ein Zeichen erhalten. Es war spät am Abend, als es an der Tür seiner Wohnung in Wien geklingelt und er widerstrebend geöffnet hatte. Auf dem Treppenabsatz stand eine alte Frau mit einem Einkaufskorb. Sie hatte blau angelaufene Lippen und schütteres weißes Haar. Undeutlich erkannte er seine christliche Dienstmagd.
    »Ich habe Sie gefunden«, sagte sie. »Ihr Haus ist in Sicherheit. Ihre Bücher sind in Sicherheit, sogar Ihre Kleidung. Ich habe jahrelang vorgegeben, es sei jetzt ein christliches Haus. Ich sterbe. Hier ist der Schlüssel.«
    *
    Shahrak, Afghanistan
    Die Tajiks sagen, sie seien das älteste Volk im Land. Sie bauen Weizen, Flachs und Melonen an. Sie haben lange, resignierte Gesichter und sind bis zur Erschöpfung mit ihren Bewässerungsgräben beschäftigt. Sie halten sich Rebhühner für Kämpfe und wissen nicht, wie man mit Pferden umgeht.
    In dem Tal oberhalb des Tajik-Dorfes kamen wir zu einem Lager der Firuzkuhi Aimaqs. Ihre Jurten hatten gewölbte weiße Dächer und waren an den Seiten mit Rauten, Schnörkeln und Quadraten bemalt, in jeder vorstellbaren Farbe, wie ein Feld voller Ritter. Pferde grasten auf einer Wiese mit Kornblumen, und am Fluß standen weißblättrige Weiden. Wir sahen ein Fettschwanzschaf mit einem Schwanz, der so groß war, daß er an einem Karren festgebunden werden mußte. Vor den Jurten kämmten ein paar Frauen in purpurroten Gewändern Wolle.
    Dies ist die Jahreszeit, wenn Bauern und Nomaden nach einer Saison des Unfriedens plötzlich die besten Freunde sind. Die Ernte ist eingebracht. Die Nomaden kaufen Getreide für den Winter. Die Dorfbewohner kaufen Käse, Häute und Fleisch. Die Schafe auf ihren Feldern sind ihnen willkommen, weil sie die Stoppeln aufbrechen und den Boden für die Herbstbestellung düngen.
    Nomaden und Pflanzer sind die zwei zusammengehörenden Stützen der sogenannten »neolithischen Revolution«, die – in ihrer klassischen Form – etwa 8500 vor Christus an den Hängen des »fruchtbaren Halbmonds« stattfand, in dem wasserreichen »Land von Hügeln und Tälern«, das sich in einem Bogen von Palästina bis zum Südwesten des Iran erstreckt. Hier, in einer Höhe von rund tausend Metern, grasten die wilden Vorfahren unserer Schafe und Ziegen wilden Weizen und Gerste ab.
    Während jede der vier Arten nach und nach domestiziert wurde,

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