Traumreisende
lag. Als sie nach unten ging, um Daphne zu fragen, was sie damit tun sollte, kam sie an Andrew Simunsens Zimmer vorbei. Die Tür war offen; er saß am Schreibtisch und las ein Buch. Als er sie sah, lächelte er und sagte. »Hallo!« Dann knickte er die Ecke einer Buchseite um, schloss das Buch und fügte hinzu: »Tut mir leid, ich hab' deinen Namen vergessen.«
»Beatrice«, sagte sie und hielt ihm die Uhr hin. »Ist das Ihre? Ich habe sie beim Putzen gefunden.«
»Wie? Ja, natürlich«, sagte er und legte das Buch auf den Schreibtisch. »Ich nehme sie oft ab und vergesse sie dann. Danke, dass du sie mir gebracht hast.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich hoffe, ich habe Sie nicht beim Lesen gestört«, sagte sie, tat ein paar Schritte in das Zimmer hinein und reichte ihm die Uhr. »Ich lese auch gern.«
»Tatsächlich? Ich hab' nie dran gedacht, dass Aborigines gebildet sein könnten. Was liest du denn?« fragte er, während er die Uhr anlegte.
»Ich interessiere mich für Naturwissenschaften, Biologie, Astronomie, solche Dinge. Natürlich habe ich nichts mehr gelesen, seit ich die Schule verlassen habe und hierher gekommen bin.«
»In der Innenstadt gibt es eine Bücherei. Die haben Bücher, die du sicher noch nie gesehen hast. Eine riesige Bibliothek. Du solltest dich irgendwann von jemandem dorthin mitnehmen lassen.« Dann fügte er schnell hinzu: »Noch besser, ich kann dir sagen, wo sie ist.« Er nahm ein Blatt Papier und einen Stift und begann, ihr den Weg aufzuzeichnen. Dabei fragte er: »Was willst du mit all diesen naturkundlichen Kenntnissen anfangen?«
Beatrice sah den glattrasierten jungen Mann an und fragte: »Anfangen? Wie meinen Sie das?« Andrew seufzte und stieß ein merkwürdiges kleines Geräusch aus, das einen verständnislosen Gesichtsausdruck begleitete.
Gute Frage, dachte er. Ich habe noch nie von einem schwarzen Naturwissenschaftler gehört, und schon gar nicht von einer schwarzen Wissenschaftlerin. Welche Berufe hatten die Aborigines? Er hatte keine Ahnung. Gewiss wurden sie nicht bei Banken angestellt, nicht einmal, um die Papierkörbe zu leeren. »Ich kenne überhaupt keine Aborigines persönlich. Außer dir natürlich. Ich weiß nichts über dein Volk. Erzähl mir von dir.«
»Ja, also«, antwortete sie, »eigentlich weiß ich gar nicht, was ich sagen soll.« Aber dann erzählte sie ihm doch die Geschichte ihres Lebens. Als sie damit fertig war, hatte Andrew verstanden, dass sie nicht viel über ihre Vorfahren wusste.
Beatrice fragte Daphne nach der Bücherei und nach einem freien Nachmittag, um hinzugehen, und die Antwort war immer dieselbe: »Wir werden das irgendwann einschieben.« Einen Monat später, als sie zum Lebensmittelmarkt gefahren waren, erinnerte Beatrice sie wieder daran, und so fuhren sie zur Bibliothek. Die beiden Frauen gingen die Zementstufen hinauf und betraten zwischen mächtigen Säulen und zwei Löwenstatuen das Gebäude. Dass eine Aborigine sich Bücher ausleihen wollte, war eine Art Schock für die ältliche Frau hinter der Theke. Konnte das Mädchen denn richtig lesen? Konnte sie sorgfältig mit Büchern umgehen und sie pünktlich zurückbringen? Welche Art von Büchern würde sie interessieren? Vielleicht konnte sie sich ja in der Bibliothek hinsetzen und lesen. Dann brauchte man sich keine Sorgen zu machen, dass die Bücher nicht zurückgebracht oder beschädigt würden. Ja, am besten solle sie zum Lesen herkommen, wiederholte die Bibliothekarin mehrere Male an Daphne gewandt, nicht an Beatrice.
Beatrice werde der Leserausweis nicht verweigert, sie bekomme nur einfach keinen, erklärte Daphne ihr auf der Heimfahrt. Für ihre neue Angestellte war das eine sehr enttäuschende Erfahrung. Sie saß auf der Veranda, als die Straßenlaternen angezündet wurden und Andrew Simunsen das Haus verließ. Sie hielt ihn an und versuchte, ihm von ihrem Missgeschick zu erzählen, aber er war sehr in Eile und knurrte nur: »Tut mir leid.«
Am folgenden Mittwoch rief er Beatrice in sein Zimmer und gab ihr drei Bibliotheksbücher, die er auf seinen eigenen Namen ausgeliehen hatte. Das war der Beginn einer langen und komplexen Beziehung. Ihm war es immer noch nicht klar, was all das Studieren einem schwarzen Mädchen nützen könnte, aber er fühlte sich wegen der üblen Behandlung ihres Volkes schuldig. Er hatte Schuldgefühle, weil sie keine Zukunft hatte, und tief in seinem Inneren nagte auch die Schuld an ihm wegen der Art und Weise, wie er sich bei Elizabeth sein
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