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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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ein Vermögen machen könnte: Eisen, Blei oder Öl. Er hatte die Angewohnheit, auf seine Hände zu starren und sich daran einen Ring aus glänzend poliertem Gold mit einem weißen makellosen Diamanten in der Mitte vorzustellen. Das tat er mehrmals am Tag, um sich an sein Ziel zu erinnern, einmal ein reicher Mann zu werden. Im Geiste hatte er den Ring immer wieder neu entworfen. Er wusste, eines Tages würde er ihm gehören, und der Bergbau schien die beste Straße zum Erfolg zu sein. Bedauerlicherweise hatte er kein Geld für Investitionen und verstand absolut nichts vom Bergbau. Er nahm einen Job in einer örtlichen Bank an, wo er Umgang mit den reichsten und mächtigsten Männern des Staates hatte.
    Er wohnte bei Mrs. Crowley, weil es dort billig war und er es nicht weit bis zur Bushaltestelle hatte. Er versuchte, einen Teil seines kleinen Gehalts zu sparen, aber das war schwierig, weil er auf sein Äußeres achten musste und Geld für gute Kleidung eine notwendige Ausgabe war. Er verzichtete auf das Mittagessen und ging oft zu Fuß, statt mit dem Bus zu fahren.
    Er war noch nicht einmal in Versuchung geraten, sich nach heiratsfähigen jungen Damen umzusehen, obwohl seine Bedürfnisse nach einer Beziehung sich durchaus bemerkbar machten. Statt dessen war er einen Schritt weitergegangen: Er hatte sich der reichen und einsamen Gattin eines Bankchefs angeschlossen, deren Mann viel auf Reisen war. Sie genoss seine Gesellschaft so, dass sie als Entgelt für persönliche Aufmerksamkeit sein Gehalt aufstockte. Ihr Name war Mrs.
    Henry Holmes, eigentlich Elizabeth. Über Geld hatten sie nie gesprochen. Nachdem sie das erste Mal zusammengewesen waren, fand er ein paar Dollar in seiner Manteltasche, als er fortging. Inzwischen konnte er anhand der Forderungen, die er ihr erfüllte, ziemlich gut beurteilen, welchen Betrag sie ihm in die Tasche stecken würde. Er erinnerte sich daran, wie seine Großmutter ihm in der Kindheit einmal geholfen hatte, für eine kurze Reise zu packen.
    Sie hatte eine Socke hochgehalten und gesagt: »Verstecke darin dein überschüssiges Geld. Diebe denken nicht daran, in zusammengerollte Socken zu schauen.« Und so warf er - so albern das auch klingen mochte - abgetragene Socken niemals weg. Er hatte eine Kommodenschublade voller alter Socken, und alle enthielten Dollarscheine, die ihm Elizabeth geschenkt hatte.
    Die Pension Crowley hatte fünf Zimmer zu vermieten. Alle waren im Grunde gleich möbliert mit Bett, Frisiertisch, Nachttisch, Schreibtisch, Stuhl und Lampe. Nichts passte zusammen, aber die Möbel waren solide und hielten einem Mann von beträchtlichem Gewicht stand. Es gab eine Dusche, eine Badewanne und eine separate Toilette im Erdgeschoss und eine Toilette und ein Waschbecken im oberen Stock.
    Daphne Crowleys persönliches Schlafzimmer war tabu. Sie trug den kleinen Messingschlüssel an einer Schnur bei sich, die mit einer Sicherheitsnadel in ihrer Tasche befestigt war.
    John Ramey, ein anderer Mieter, war ein Mann um die Fünfzig, dessen Haar von den Schläfen aus zu ergrauen begann. Er hatte durchdringende blaue Augen, deren Lider sich nie ganz öffneten. Sein Haus war sechs Monate zuvor abgebrannt, und er hatte dabei seine Frau, seinen Sohn und die Schwiegertochter verloren. Er war am Boden zerstört gewesen.
    Zuerst hatte er bei Freunden gewohnt, doch es war schwer gewesen, sich näher zukommen. Sie wollten reden, wenn er nicht reden wollte. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, musste er Spazieren gehen; er ging um Mitternacht aus und kam manchmal erst gegen drei Uhr früh zurück. Er versuchte, rücksichtsvoll zu sein und niemanden zu wecken, aber er wollte es auch vermeiden, mit Fragen und Ratschlägen bombardiert zu werden.
    Eines Tages sah er sich die Annoncen in der Zeitung an und fand darin Daphnes Pension. Ihm war es egal, wie es dort aussah oder wie das Essen schmeckte. Für ihn war sie einfach ein Ort, wo er würde bleiben können, bis er entschieden hätte, was er weiter mit seinem Leben anfangen sollte.
    Er arbeitete für eine Zementfirma, die ihn wegen seiner zweiundzwanzigjährigen perfekten Dienste bis zu der Tragödie hoch gelobt hatte. Er ging weiterhin jeden Tag zur Arbeit, aber er machte Fehler - zu viele Fehler. Der Vorarbeiter wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er war zehn Jahre jünger als John und hatte nur halb soviel Erfahrung, und er bemitleidete ihn wegen des schrecklichen Verlusts, aber er wusste, dass etwas geschehen musste. Er bat um ein

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