Traumsammler: Roman (German Edition)
Ägäis. Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals. Ich will hier nicht sterben, zwischen all diesen Fremden, so weit weg von ihr. Ich stecke das Foto in den Spalt zwischen Rahmen und Scheibe.
Sechsundsechzig. Siebenundsechzig. Achtundsechzig.
Der Junge im Nachbarbett hat das Gesicht eines Greises, hager, eingefallen, tief gefurcht. Ein Tumor von der Größe einer Bowlingkugel bläht seinen Unterleib auf. Wenn ein Pfleger ihn dort berührt, kneift er die Augen zu und reißt den Mund zu einem stummen, schmerzhaften Heulen auf. An diesem Morgen versucht ein Kollege von Gul, dem Jungen Tabletten zu geben, aber der Junge dreht den Kopf weg, und seiner Kehle entringt sich ein Geräusch wie ein Kratzen auf Holz. Schließlich reißt der Pfleger ihm den Mund auf und zwängt die Tabletten hinein. Nachdem er gegangen ist, dreht sich der Junge langsam zu mir um. Wir betrachten einander über den Gang zwischen unseren Betten. Eine kleine Träne rollt ihm über die Wange.
Fünfundsiebzig. Sechsundsiebzig. Achtundsiebzig.
Das Elend und die Verzweiflung in diesem Saal gleichen einer Welle. Sie schwappt von Bett zu Bett, bricht sich vor der schimmeligen Wand und schwappt zurück. Man kann darin ertrinken. Ich schlafe viel. Wenn ich wach bin, juckt es überall. Ich nehme die Tabletten, die man mir gibt, und sie lassen mich weiterschlafen. Ich beschäftige mich, indem ich die geschäftige Straße vor dem Krankensaal beobachte, den Sonnenschein, der über den Basaren und den Teeläden in den Seitenstraßen tanzt. Ich sehe zu, wie Kinder auf dem Bürgersteig, der sich allmählich in eine schlammige Gosse verwandelt, mit Murmeln spielen. Ich betrachte die alten, in den Hauseingängen hockenden Frauen, die Straßenverkäufer, die im dhoti auf ihrer Matte sitzen, Kokosnüsse auskratzen und Girlanden aus Ringelblumen feilbieten. Weiter hinten im Saal kreischt jemand ohrenbetäubend laut. Ich dämmere ein.
Dreiundachtzig. Vierundachtzig. Fünfundachtzig.
Ich weiß jetzt, dass der Junge Manaar heißt. Das bedeutet »Leitlicht«. Seine Mutter war Prostituierte, sein Vater ein Dieb. Er hat bei Onkel und Tante gelebt und wurde von ihnen geprügelt. Man weiß, dass er sterben wird, aber man weiß nicht, woran. Niemand besucht ihn, und nach seinem Tod, in einer Woche, spätestens in zwei Monaten, wird niemand seinen Leichnam abholen. Niemand wird um ihn trauern. Niemand wird sich an ihn erinnern. Er wird dort sterben, wo er gelebt hat, am Rand der Gesellschaft. Wenn er schläft, ertappe ich mich dabei, seine tief eingesunkenen Schläfen zu betrachten, seinen Kopf, der zu groß für die schmalen Schultern ist, die dunkle Narbe auf der Unterlippe, wo, wie Gul mir erzählte, der Zuhälter seiner Mutter immer die Zigaretten ausdrückte. Ich versuche, mit ihm zu reden, erst auf Englisch, dann mit meinen paar Brocken Urdu, aber er blinzelt nur müde. Ich mache Schattenspiele mit den Händen, zaubere Tiere auf die Wand, um ihm ein Lächeln zu entlocken.
Siebenundachtzig. Achtundachtzig. Neunundachtzig.
Eines Tages zeigt Manaar zum Fenster. Ich recke den Kopf und folge seinem Finger mit dem Blick, sehe aber nur blaue Himmelsflecken zwischen den Wolken, Kinder, die auf der Straße im Wasserstrahl einer Pumpe spielen, einen Bus mit qualmendem Auspuff. Dann wird mir klar, dass Manaar auf das Foto von Thalia deutet. Ich zupfe es aus dem Fensterrahmen, und er nimmt es an der verbrannten Ecke in die Hand, hält es sich nah vor die Augen, betrachtet es lange. Ob ihn das Meer fasziniert? Ich frage mich, ob er den Geschmack von Salzwasser oder den Schwindel kennt, der einen erfasst, wenn das Wasser rings um die Füße zurückflutet. Vielleicht erkennt er in Thalia, obwohl man ihr Gesicht nicht sehen kann, eine Seelenverwandte, jemanden, der weiß, was Schmerzen sind. Er will mir das Foto zurückgeben, aber ich schüttele den Kopf. Behalt es noch eine Weile , sage ich. Ein Schatten des Misstrauens überfliegt sein Gesicht. Ich lächele. Und mir scheint, als würde er mein Lächeln erwidern.
Zweiundneunzig. Dreiundneunzig. Vierundneunzig.
Ich besiege die Hepatitis. Schwer zu sagen, ob es Gul freut oder enttäuscht, dass seine Prophezeiung nicht in Erfüllung gegangen ist. Als ich frage, ob ich als Freiwilliger bleiben darf, ist er verblüfft. Er runzelt die Stirn, legt den Kopf schief. Am Ende muss ich mit einem seiner Vorgesetzten reden.
Siebenundneunzig. Achtundneunzig. Neunundneunzig.
Die Dusche stinkt nach Schwefel und Urin. Ich trage Manaar
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