Traumsammler: Roman (German Edition)
konnte.
Madaline ergänzte, alles werde wie am Schnürchen laufen. Thalia könne in einigen Wochen, wenn die Schule beginnen würde, ihren Unterricht fortsetzen, natürlich zu Hause mit Mamá. Sie würde uns, sagte sie, Postkarten und Briefe mit Fotos vom Filmset schicken. Sie sagte noch mehr, aber ich hörte nicht mehr hin, denn ich war nicht nur tief erleichtert, sondern mir schwirrte geradezu der Kopf. Ich hatte mich vor dem Ende des Sommers gefürchtet, und diese Furcht hatte wie ein Knoten in meinem Bauch gesessen, der sich mit jedem Tag straffer zusammenzog, während ich mich auf den immer näher rückenden Abschied gefasst machte. Wenn ich morgens wach wurde, freute ich mich schon darauf, Thalia am Frühstückstisch zu sehen und den sonderbaren Klang ihrer Stimme zu hören. Wir aßen nur wenig, dann rannten wir hinaus, kletterten auf Bäume, jagten einander durch die Gerstenfelder, bahnten uns mit Kriegsgeschrei einen Weg durch die Halme, während die Eidechsen vor uns davonstoben. Wir machten mit unserer Lochkamera Fotos von Windmühlen und Taubenschlägen und brachten sie zu Herrn Roussos, der sie entwickelte. Er gewährte uns sogar Zutritt zu seiner Dunkelkammer und zeigte uns die verschiedenen Entwickler, Fixierer und Unterbrecherbäder.
Nachdem Madaline ihre Nachricht verkündet hatte, machte sie mit Mamá in der Küche eine Flasche Wein auf und trank den Großteil selbst. Thalia und ich spielten oben eine Partie Tavli . Thalia hatte die Mana -Position und schon die Hälfte ihrer Steine heimgeholt.
»Sie hat einen Liebhaber«, sagte Thalia beim Würfeln.
Ich erschrak. »Und wen?«
» Wen , fragt er. Na, was glaubst du denn?«
Ich hatte während des Sommers gelernt, Thalias Gefühle an ihren Augen abzulesen, und jetzt sah sie mich an, als würde ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Ich versuchte, mich rasch zu besinnen. »Ich weiß, wer es ist«, sagte ich mit brennenden Wangen. »Ich meine, wer der – na, du weißt schon – ist.« Ich war erst zwölf. Wörter wie »Liebhaber« kamen in meinem Wortschatz nicht vor.
»Kannst du’s dir nicht denken? Es ist der Regisseur.«
»Das wollte ich gerade sagen.«
»Elias. Eine echte Nummer. Schmiert sich Pomade in die Haare wie in den zwanziger Jahren. Hat auch einen schmalen Schnurrbart. Bildet sich wohl ein, das würde ihm etwas von einem Edelganoven verleihen. Ein absolut lächerlicher Typ. Aber er hält sich natürlich für einen großen Künstler. Und meine Mutter sieht das ganz genauso. Du solltest mal sehen, wie schüchtern und unterwürfig sie in seiner Gegenwart ist – als müsste sie sich vor ihm klein machen und ihm schmeicheln, weil er ein so großes Genie ist. Nicht zu fassen, dass sie ihn nicht durchschaut.«
»Will Tante Madaline ihn heiraten?«
Thalia zuckte mit den Schultern. »Sie hat einen schlechten Geschmack, was Männer betrifft. Einen ganz schlechten.« Sie würfelte, dachte kurz nach. »Bis auf Andreas, würde ich sagen. Er ist nett. Jedenfalls halbwegs nett. Aber sie wird ihn natürlich verlassen. Sie fällt immer nur auf Mistkerle rein.«
»So wie auf deinen Vater.«
Sie runzelte leicht die Stirn. »Sie hat meinen Vater auf dem Weg nach Amsterdam kennengelernt. Auf einem Bahnhof, während eines Gewitters. Sie haben nur einen Nachmittag miteinander verbracht. Ich weiß nicht, wer er ist. Und sie weiß es genauso wenig.«
»Oh. Ich dachte, sie hätte mal von ihrem ersten Mann erzählt. Dass er getrunken hat. Aber vielleicht täusche ich mich auch.«
»Das war Dorian«, sagte Thalia. »Auch so eine Nummer.« Sie ergatterte noch einen Stein. »Er hat sie oft geschlagen. Seine Freundlichkeit konnte innerhalb einer Sekunde in blanke Wut umschlagen. Unberechenbar wie das Wetter. Ja, so war er. Er soff den lieben, langen Tag und lag die meiste Zeit nur herum. Wenn er blau war, hat er alles um sich herum vergessen. Einmal hat er vergessen, den Wasserhahn zuzudrehen und das ganze Haus unter Wasser gesetzt. Ein andermal wäre fast alles abgebrannt, weil er den Ofen nicht ausgeschaltet hat.«
Sie stapelte schweigend ihre Spielsteine und versuchte, sie zu einem geraden Turm anzuordnen.
»Eigentlich liebte Dorian nur Apollo. Alle Nachbarskinder hatten Angst vor ihm – vor Apollo, meine ich –, obwohl sie ihn nie sahen, sondern nur sein Gebell gehört haben. Aber das war schon genug. Dorian hielt ihn hinten im Garten an einer Kette. Fütterte ihn mit großen Stücken Lammfleisch.«
Thalia erzählte nicht weiter. Aber ich
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