Traumsammler: Roman (German Edition)
jeden Morgen auf den Armen dorthin, achte darauf, ihn ruhig zu halten – ein anderer Freiwilliger warf sich den Jungen einmal wie einen Sack Reis über die Schulter. Ich lasse ihn behutsam auf die Bank sinken und warte, bis er wieder zu Atem gekommen ist. Dann spüle ich seinen zerbrechlichen, kleinen Körper mit warmem Wasser ab. Manaar sitzt immer still und geduldig da, die Hände auf den Knien, den Kopf tief gesenkt. Er gleicht einem furchtsamen, knochigen Greis. Ich wische mit dem Schwamm über seinen Brustkasten, über die Huckel seines Rückgrats, seine wie Haifischflossen aufragenden Schulterblätter. Dann trage ich ihn wieder zurück ins Bett und gebe ihm die Tabletten. Es beruhigt ihn, wenn man seine Füße und Unterschenkel massiert, und ich tue das in aller Ruhe. Wenn er schläft, ragt das Foto von Thalia immer unter seinem Kopfkissen hervor.
Hunderteins. Hundertzwei.
Ich laufe lange und ziellos durch die Stadt, um dem Krankenhaus zu entfliehen, in dem sich der Atem der Kranken und Sterbenden miteinander vermischt. Ich laufe im staubigen Licht der Sonnenuntergänge durch Straßen, gesäumt von Mauern voller Graffitis, vorbei an eng beieinanderstehenden Blechbuden, kreuze den Weg von Mädchen, die Körbe voll frischen Dungs auf dem Kopf tragen, begegne rußbedeckten Frauen, die in großen Aluminiumwannen Lumpen kochen. Ich denke viel an Manaar, während ich durch das Gewirr enger Gassen schlendere, Manaar, der in einem Saal zwischen Gestalten, ebenso elend wie er, auf den Tod wartet. Ich denke auch viel an die auf dem Stein sitzende, auf das Meer schauende Thalia. Ich kann tief in meinem Inneren etwas spüren, das mich zieht und an mir zerrt wie eine Unterströmung. Ich würde ihr gern nachgeben und mich erfassen lassen. Ich würde mich gern gehen lassen, aus meiner Haut schlüpfen, alles abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut abstreift.
Ich behaupte nicht, dass Manaar alles verändert hätte. Das ist nicht der Fall. Ich irre noch ein Jahr durch die Welt, bis ich schließlich an einem Ecktisch in der Athener Bibliothek sitze, vor mir die Bewerbung für ein Medizinstudium. Zwischen Manaar und dieser Bewerbung habe ich zwei Wochen in Damaskus verbracht, aber das Einzige, woran ich mich erinnern kann, sind die grinsenden Gesichter zweier Frauen mit sehr faltigen Augen und jeweils einem Goldzahn. Dann die drei Monate in Kairo, im Keller eines verwahrlosten Mietshauses, Eigentum eines haschischsüchtigen Mannes, der in einem früheren Leben Zahnarzt war. Ich verpulvere das Geld von Thalia für Busfahrten durch Island, ziehe im Schlepptau einer Punkband durch München. Ich breche mir 1977 bei einer Anti-Atom-Demo in Bilbao einen Ellbogen.
Doch in den stillen Momenten, während der langen Fahrten im Bus oder hinten auf einem Lkw, kehren meine Gedanken immer wieder zu Manaar zurück. Wenn ich an ihn denke, an die Qualen, die er während seiner letzten Tage erdulden musste, und an meine Hilflosigkeit angesichts seines Leidens, dann kommt mir alles, was ich getan habe, alles, was ich noch vorhabe, so albern vor wie die kleinen Schwüre, die man abends vor dem Einschlafen ablegt und längst vergessen hat, wenn man am nächsten Morgen aufwacht.
Einhundertneunzehn. Einhundertzwanzig.
Ich setze den Verschluss vor das Loch.
* * *
Eines Abends im Spätsommer erfuhr ich, dass Madaline nach Athen zurückkehren und Thalia noch eine Weile bei uns lassen wollte.
»Nur ein paar Wochen«, sagte sie.
Wir aßen zu viert eine Suppe mit weißen Bohnen, die Mamá zusammen mit Madaline gekocht hatte. Ich warf Thalia über den Tisch hinweg einen Blick zu, um herauszufinden, ob ich der Einzige war, den diese Nachricht überraschte. Das schien der Fall zu sein. Thalia aß in aller Ruhe ihre Suppe, hob bei jedem Löffel ein wenig die Maske. Zu diesem Zeitpunkt störten mich ihre Sprechweise und ihre Art zu essen nicht mehr. Es war nicht anders, als einem alten Menschen mit schlecht sitzendem Gebiss beim Essen zuzuschauen, zum Beispiel Mamá – dies allerdings erst Jahre später.
Madaline sagte, sie wolle Thalia nachholen, sobald der Film abgedreht sei, auf jeden Fall noch vor Weihnachten.
»Ich werde euch alle nach Athen einladen«, sagte sie gewohnt heiter. »Wir besuchen dann gemeinsam die Filmpremiere! Wäre das nicht herrlich, Markos? Wenn wir zu viert, alle in Schale, im Kino einlaufen würden?«
Ich bejahte, obwohl ich mir Mamá im schicken Abendkleid auf dem roten Teppich eines Kinos kaum vorstellen
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