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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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hatte alles vor Augen. Dorian im Suff, der Hund vergessen und nicht an der Kette. Eine offene Tür.
    »Wie alt warst du damals?«, fragte ich leise.
    »Fünf.«
    Dann stellte ich die Frage, die mir seit Anfang des Sommers nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. »Gibt es nichts, was … Ich meine – könnte man nicht etwas tun, um …«
    Thalia wandte sich ab. »Bitte nicht fragen«, sagte sie dumpf. In ihrer Stimme schwang ein tiefer Schmerz mit. »Das macht mich fertig.«
    »Entschuldige«, sagte ich.
    »Irgendwann erzähle ich es dir.«
    Und das tat sie dann auch zu einem späteren Zeitpunkt: Die schlampige Operation und die katastrophale Wundinfektion danach, die Eiterbildung, das Versagen von Nieren und Leber. Die Ärzte sahen sich gezwungen, nicht nur den Hautlappen, sondern einen größeren Teil ihrer linken Wange, ja sogar ein Stück ihres Kieferknochens zu entfernen. All dies hatte zur Folge, dass sie knapp drei Monate im Krankenhaus lag. Sie wäre fast gestorben. Sie hätte sterben sollen. Danach ließ sie keinen Arzt mehr an sich heran.
    »Thalia«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid, dass ich so blöd zu dir war, als wir uns kennengelernt haben.«
    Sie sah zu mir auf. Der verspielte Glanz trat wieder in ihre Augen. »Ja, das sollte dir auch leidtun. Aber ich wusste es schon, bevor dir alles aus der Hand fiel.«
    »Was wusstest du?«
    »Dass du ein Esel bist.«
    * * *
    Madaline reiste zwei Tage vor Schulanfang ab. Sie trug ein mattgelbes, ärmelloses, enganliegendes Kleid, eine dunkle Sonnenbrille aus Horn und ein weißseidenes Kopftuch. Sie war gekleidet, als hätte sie Angst, ein Körperteil zu verlieren – als müsste sie sich in eine äußere Form zwängen, um innerlich nicht auseinanderzufallen. Im Fährhafen von Tinos-Stadt umarmte sie uns. Sie hielt Thalia am engsten umschlungen und küsste sie, ohne die Lippen wegzuziehen, lange auf den Kopf. Sie setzte die Sonnenbrille nicht ab.
    »Drück mich«, hörte ich sie flüstern.
    Thalia gehorchte widerwillig.
    Als die Fähre ächzend ablegte und sich mit schäumendem Kielwasser vom Kai entfernte, erwartete ich, dass uns Madaline vom Heck Kusshändchen zuwerfen würde. Aber sie ging zum Bug und nahm dort Platz. Sie drehte sich nicht mehr nach uns um.
    Zu Hause wurden wir von Mamá aufgefordert, uns zu setzen. Sie baute sich vor uns auf und sagte: »Hier im Haus musst du dieses Ding nicht mehr tragen, Thalia. Nicht wegen mir. Und auch nicht wegen Markos. Trag es nur, wenn dir danach ist. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen.«
    In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, was Mamá längst begriffen hatte: Die Maske hatte nur dazu gedient, Madaline Scham und Peinlichkeit zu ersparen.
    Thalia saß lange stumm und reglos da. Dann hob sie die Hände und löste die Bänder am Hinterkopf. Sie ließ die Maske sinken. Ich sah ihr direkt ins Gesicht. Ich hatte den Impuls, zurückzuzucken wie bei einem lauten, plötzlichen Krach. Aber ich beherrschte mich. Ich wandte den Blick nicht ab. Und ich zwang mich, nicht zu blinzeln.
    Mamá sagte, dass sie mich bis zur Rückkehr Madalines zu Hause unterrichten werde, damit Thalia nicht allein sei. Sie wolle uns abends, nach dem Essen, unterrichten, und sie werde uns Hausaufgaben aufgeben, die wir am nächsten Vormittag erledigen sollten, während sie in der Schule war. Das klang machbar, jedenfalls theoretisch.
    Aber das Lernen erwies sich als fast unmöglich, vor allem, wenn Mamá fort war. Die Nachricht von Thalias entstelltem Gesicht hatte sich wie ein Lauffeuer auf der Insel verbreitet, und ständig klopften Neugierige an die Tür. Man hätte meinen können, dass Mehl, Knoblauch oder Salz auf der ganzen Insel nur noch bei uns zu bekommen waren. Die Leute versuchten gar nicht erst, ihre wahre Absicht zu verbergen. Wenn sie in der Tür standen, ließen sie den Blick über meine Schulter schweifen. Sie reckten den Hals und stellten sich auf Zehenspitzen. Die meisten waren nicht einmal Nachbarn. Sie waren kilometerweit gelaufen, um sich eine Tasse Zucker zu borgen. Ich ließ sie natürlich nie herein. Es befriedigte mich, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aber ich fühlte mich auch bedrückt und entmutigt, weil ich wusste, dass ich mein Leben, wenn ich hierbleiben würde, im Schatten dieser Menschen verbringen würde. Und am Ende würde ich ihnen gleichen.
    Die Kinder waren noch schlimmer und noch viel dreister. Ich erwischte täglich welche, die draußen herumschlichen und auf unsere Mauer kletterten.

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