Traumsammler: Roman (German Edition)
selbstverständlich. Ich hatte mich genauso wenig bei meiner Mutter dafür bedankt, wie ich der Sonne dafür dankte, dass sie schien.
»Schaut mal!«, ruft Thalia.
Plötzlich haben sich ringsumher auf der Erde, auf den Mauern, auf unserer Kleidung kleine, schimmernde Sicheln aus Licht materialisiert. Die sichelförmige Sonne, die durch die Blätter unseres Olivenbaums scheint. Ich stelle fest, dass eine Sichel auf meinem Kaffee tanzt. Eine andere auf meinen Schnürsenkeln.
»Zeig mir deine Hände, Odie«, sagt Thalia. »Schnell.«
Mamá hebt die Hände und zeigt ihre Handflächen. Thalia holt einen geschliffenen Glaswürfel aus der Tasche und hält ihn darüber, und plötzlich tanzen kleine, sichelförmige Regenbogen über die faltigen Hände meiner Mutter. Sie hält den Atem an.
»Sieh dir das an, Markos!«, sagt Mamá und lächelt so breit und glücklich wie ein Schulmädchen. Ich habe sie noch nie so lächeln sehen, so ungetrübt, so heiter.
Wir betrachten die kleinen, auf den Händen meiner Mutter zitternden Regenbögen, und ich verspüre eine Traurigkeit und einen alten Schmerz, und beides schnürt mir die Kehle zu.
Aus dir ist ein guter Mensch geworden.
Ich bin stolz auf dich, Markos.
Ich bin fünfundfünfzig. Ich habe mein ganzes Leben auf diese Worte gewartet. Ob es jetzt zu spät ist – für diese Worte, für uns? Haben wir zu lange zu viel versäumt, Mamá und ich? Einerseits denke ich, dass es besser wäre, weiterzumachen wie gehabt, uns weiter so zu verhalten, als wüssten wir nicht, wie schlecht wir zueinander passen. Das wäre weniger schmerzhaft. Möglicherweise besser als diese verspätete Anerkennung. Diesen kleinen, flüchtigen Blick darauf, wie es zwischen uns hätte sein können. Das hätte nur Reue zur Folge, denke ich, und wem nützt die Reue? Sie macht nichts wiedergut. Was wir verloren haben, kann durch nichts mehr ersetzt werden.
Doch als meine Mutter sagt: »Ist das nicht schön, Markos?«, erwidere ich: »Ja, Mamá, das ist schön.« Und noch während ich diese Worte ausspreche, bricht etwas in meinem Inneren auf, weit auf, und ich greife nach der Hand meiner Mutter und umschließe sie fest.
Neun
Winter 2010
Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, hatten wir ein abendliches Ritual. Nachdem ich meine einundzwanzig bismillahs gesprochen hatte und von meinem Vater gut zugedeckt worden war, setzte er sich zu mir ans Bett und zupfte mit Daumen und Zeigefinger schlechte Träume von meinem Kopf. Seine Finger sprangen von der Stirn zu den Schläfen, suchten geduldig hinter meinen Ohren und am Hinterkopf, und bei jedem Albtraum, von dem er mich befreite, stieß er ein leises Ploppen aus – wie beim Entkorken einer Flasche. Er tat einen Traum nach dem anderen in einen unsichtbaren, auf seinem Schoß liegenden Sack, den er fest verschnürte. Dann schaute er sich um und suchte schöne Träume als Ersatz für jene, die er sich geholt hatte. Ich sah zu, wie er den Kopf schief legte, die Stirn runzelte, den Blick schweifen ließ, als würde er ferner Musik lauschen. Ich hielt jedes Mal den Atem an und wartete auf den Moment, wenn sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, wenn er sagte: Ah, da haben wir ja einen , wenn er die Hände aneinanderlegte und den Traum darauf landen ließ wie ein Blütenblatt, das langsam von einem Baum segelt. Dann hielt er behutsam, ganz behutsam – mein Vater sagte immer, alles Schöne im Leben sei zerbrechlich und gehe leicht verloren –, die Hände vor mein Gesicht und rieb mit den Handflächen über meine Augenbrauen, damit das Glück in meinen Kopf gelangte.
Was träume ich heute Nacht, Baba? , fragte ich.
Oh, heute Nacht, tja, heute Nacht wirst du etwas ganz Besonderes träumen , sagte er immer, bevor er zu erzählen begann. In einem der Träume, die er mir schenkte, war ich die berühmteste Malerin auf der Welt. In einem anderen war ich die Königin einer verwunschenen Insel und besaß einen fliegenden Thron. Er schenkte mir sogar einen Traum von meinem Lieblingsdessert Götterspeise. Ich hatte die Macht, mit einem Wink der Hand alles und jeden in Götterspeise zu verwandeln – einen Schulbus, das Empire State Building, den ganzen Pazifik, wenn ich gewollt hätte, und ich rettete die Erde mehr als einmal vor der Vernichtung, indem ich einen Meteor durch einen Wink zu Götterspeise werden ließ. Baba, der fast nie von seinem Vater sprach, erzählte mir, dass er von diesem die Gabe des Geschichtenerzählens geerbt habe. Früher, als
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