Traumsammler: Roman (German Edition)
scheint ihre Haare gebürstet zu haben. Ich bin erleichtert, als ich sehe, dass sie die Treppenstufen ganz normal heruntergehen kann. Bei meinem Anblick breitet sie die Arme aus und lächelt verschlafen.
Wir trinken einen Kaffee am Küchentisch.
»Wo ist Thalia?«, fragt sie und pustet in ihre Tasse.
»Sie kauft ein. Für morgen. Ist das deiner, Mamá?« Ich deute auf einen Stock, der hinter dem neuen Sessel an der Wand lehnt. Ich hatte ihn bei meiner Ankunft übersehen.
»Ach, den brauche ich fast nie. Nur an schlechten Tagen. Und für lange Spaziergänge. Und selbst dann nur für den Seelenfrieden«, antwortet sie wegwerfend, was mir verrät, dass sie ihn öfter braucht, als sie zugibt. »Du bist es, um den ich mir Sorgen mache. Wegen der Nachrichten aus diesem schrecklichen Land. Thalia will nicht, dass ich etwas davon mitbekomme. Sie sagt, es würde mich nur aufregen.«
»Ja, manchmal passiert etwas«, sage ich, »aber im Grunde leben die Menschen ihr Leben wie überall sonst auch. Und ich passe immer gut auf mich auf, Mamá.« Ich verschweige ihr natürlich die Schießerei im Gästehaus gegenüber, die kürzliche Welle von Angriffen auf ausländische Helfer, und ich verheimliche ihr auch, dass ich mit »auf mich aufpassen« die 9-Millimeter-Pistole meine, die ich auf Fahrten durch die Stadt immer bei mir trage, Fahrten, die ich besser unterlassen sollte.
Mamá nippt am Kaffee, zuckt leicht zusammen. Sie bedrängt mich nicht. Schwer zu sagen, ob das ein gutes Zeichen ist. Vielleicht ist sie wie viele alte Menschen auf einmal in Gedanken versunken, vielleicht ist sie auch taktvoll genug, mich nicht in die Ecke zu drängen, um Lügen oder Wahrheiten aus mir herauszupressen, die sie nur beunruhigen würden.
»Wir haben dich an Weihnachten vermisst«, sagt sie.
»Ich konnte nicht fort, Mamá.«
Sie nickt. »Nun bist du da. Nur das zählt.«
Ich nippe auch am Kaffee. Als ich klein war, haben Mamá und ich jeden Morgen gemeinsam an diesem Tisch gefrühstückt, still und fast feierlich, und dann sind wir gemeinsam zur Schule gegangen. Wir sprachen kaum ein Wort.
»Ich mache mir auch Sorgen um dich, Mamá.«
»Das ist überflüssig. Ich komme gut zurecht.« Da blitzt der alte, trotzige Stolz auf, ein matter Schimmer im Nebel.
»Aber wie lange noch?«
»So lange wie möglich.«
»Und wenn du es nicht mehr schaffst? Was dann?« Ich will sie nicht herausfordern, sondern frage, weil ich es wirklich nicht weiß. Ich habe keine Ahnung, wie meine Rolle dann aussehen wird oder ob ich überhaupt eine spielen werde.
Sie sieht mir ruhig in die Augen. Dann tut sie noch einen Löffel Zucker in ihre Tasse und rührt langsam um. »Schon komisch, Markos, aber die meisten Menschen gehen das Leben falsch an. Sie glauben, es nach ihren Wünschen auszurichten. Aber in Wahrheit richten sie es nach ihren Ängsten aus. An dem, was sie nicht wollen.«
»Ich kann dir nicht folgen, Mamá.«
»Na, du zum Beispiel. Dass du von Tinos weggegangen bist. Das Leben, das du dir aufgebaut hast. Du hattest Angst, hier eingesperrt zu sein. Mit mir. Du hattest Angst, ich würde dich behindern. Oder nimm Thalia. Sie ist geblieben, weil sie nicht mehr angestarrt werden wollte.«
Sie probiert den Kaffee und nimmt noch etwas mehr Zucker. Ich weiß noch, wie unsicher ich mich als Junge gefühlt habe, wenn ich mit ihr diskutieren wollte. Ihr Tonfall schien keinen Platz für eine Erwiderung zu lassen, sie machte mich gleich zu Anfang mit ihrer Wahrheit mundtot, warf sie mir unverblümt an den Kopf. Ich hatte noch nichts gesagt, da war ich schon besiegt. Ich fand das immer unfair.
»Und du, Mamá?«, frage ich. »Wovor hast du Angst? Was möchtest du nicht?«
»Ich will keine Last sein.«
»Das wirst du nicht.«
»Ja, damit hast du wohl recht, Markos.«
Diese rätselhafte Bemerkung löst eine innere Unruhe in mir aus. Ich muss unwillkürlich an den Brief denken, den Nabi mir in Kabul übergeben hat, seine posthume Beichte. An den Pakt, den er mit Suleiman Wahdati geschlossen hatte. Ob Mamá mit Thalia ein ähnliches Abkommen getroffen hat? Ob sie Thalia dazu auserkoren hat, sie zu retten, wenn es so weit ist? Thalia wäre dazu imstande, das weiß ich. Sie hätte die Kraft dazu. Sie würde Mamá retten.
Mamá mustert mein Gesicht. »Du hast dein Leben und deine Arbeit, Markos«, sagt sie milder und lenkt das Gespräch in eine andere Richtung, als hätte sie meine Gedanken gelesen, meine Befürchtung erraten. Die dritten Zähne, die Windeln,
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