Traumsammler: Roman (German Edition)
er klein gewesen sei, berichtete er, habe er sich setzen müssen, und dann habe sein Vater Geschichten von Dschinns, Elfen und Dämonen erzählt, wenn auch selten, denn sein Vater sei nicht oft in der passenden Stimmung gewesen.
An manchen Abenden war ich an der Reihe. Dann schloss Baba die Augen, und ich strich über sein Gesicht. Ich begann bei seinen Brauen, fuhr dann über seine stoppeligen Wangen, die dichten Schnurrbarthaare.
Und was träume ich heute Nacht? , flüsterte er, ergriff meine Hände und lächelte breit. Er wusste, welchen Traum ich ihm schenken würde, denn es war stets der gleiche: Baba lag mit seiner Schwester nachmittags unter einem blütenschweren Apfelbaum, und die beiden wurden allmählich vom Schlaf übermannt. Die Sonne schien warm auf ihre Wangen, und im Sonnenschein glänzten Blätter und Gräser und die unzähligen Blüten über ihnen.
Ich war ein Einzelkind und oft einsam – nach meiner Geburt entschieden sich meine Eltern, die einander mit fast vierzig in Pakistan kennengelernt hatten, dagegen, noch ein Kind zu bekommen. Ich weiß noch, dass ich alle Kinder in unserem Viertel oder an meiner Schule, die jüngere Geschwister hatten, beneidete. Ich fand es seltsam, dass sie einander manchmal behandelten, als wüssten sie ihr Glück nicht zu schätzen. Sie führten sich auf wie wilde Tiere. Sie kniffen, schlugen, schubsten und verrieten ihre Geschwister auf jede nur denkbare Art. Lachten sie aus. Sprachen nicht mehr mit ihnen. Das wollte mir nicht in den Kopf. Was mich betraf, so sehnte ich mich in meiner frühen Kindheit ständig nach einem Geschwisterchen. Ich wäre am liebsten ein Zwilling gewesen, weil dann noch jemand neben mir in der Wiege geschrien und geschlafen und an der Brust meiner Mutter getrunken hätte. Jemand, den ich bedingungslos geliebt und in dessen Gesicht ich mich wiedererkannt hätte.
Also wurde Babas kleine Schwester, Pari, zu meiner Gefährtin. Bis auf mich war sie für alle unsichtbar. Sie war die Schwester, die ich mir immer von meinen Eltern gewünscht hatte. Ich erblickte sie im Badezimmerspiegel, wenn wir morgens Seite an Seite die Zähne putzten. Wir zogen uns gemeinsam an. Sie folgte mir in die Schule und saß neben mir im Unterricht und schaute zur Tafel – aus den Augenwinkeln sah ich immer ihr Haar und ihr helles Profil. Ich nahm sie in der Pause mit zum Spielplatz, spürte sie hinter mir, wenn ich auf einer Rutsche nach unten sauste oder mich am Gerüst von einer Strebe zur nächsten hangelte. Wenn ich nach der Schule am Küchentisch zeichnete, saß sie geduldig kritzelnd in der Nähe oder sah aus dem Fenster, bis ich fertig war, und dann rannten wir zum Seilspringen nach draußen, und unsere Zwillingsschatten flogen auf dem Beton auf und ab.
Niemand wusste von meinen Spielen mit Pari. Nicht einmal mein Vater. Sie war mein Geheimnis.
Wenn wir allein waren, aßen wir Trauben und plauderten über Spielzeug oder Lieblingscomics, Schüler, die wir doof fanden, fiese Lehrer oder die leckersten Frühstücksflocken. Wir hatten die gleiche Lieblingsfarbe (Gelb), die gleiche Lieblingseissorte (Kirsche), die gleiche Lieblingssendung (Alf), und wir wollten beide Künstler werden, wenn wir groß waren. Ich stellte mir vor, dass wir uns glichen wie ein Ei dem anderen, denn wir waren ja Zwillinge. Manchmal konnte ich sie beinahe sehen – wirklich sehen, meine ich –, ganz am Rand meines Blickfelds. Wenn ich sie zeichnete, gab ich ihr immer meine etwas schiefstehenden, hellgrünen Augen, meine dunklen Locken und meine langen und geraden, fast zusammengewachsenen Brauen. Und wenn jemand fragte, wen ich da zeichnete, sagte ich immer: Mich.
Ich wusste, wie mein Vater seine Schwester verloren hatte. Diese Geschichte war mir so vertraut wie die des Propheten, die meine Mutter mir erzählt hatte, und in der Moschee in Hayward, wo ich auf Wunsch meiner Eltern die Sonntagsschule besuchte, erfuhr ich noch mehr über ihn. Doch Paris Geschichte, die ich bald in- und auswendig kannte, faszinierte mich so sehr, dass ich sie jeden Abend hören wollte. Was vielleicht daran lag, dass wir denselben Namen trugen. Oder daran, dass ich eine Verbindung zwischen uns spürte, vage und rätselhaft, aber gleichzeitig real. Und das war nicht alles. Ich hatte das Gefühl, von ihr berührt , von ihrem Schicksal gezeichnet worden zu sein. Ich spürte, dass unsere Leben auf eine unergründliche, einer geheimnisvollen Gesetzmäßigkeit entsprechende Weise miteinander verknüpft waren,
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