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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Mitten auf der Seite ist ein Gruppenbild abgedruckt. Ich, einige der Kinder und im Hintergrund Nabi, der stocksteif dasteht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und düster, schüchtern und würdevoll zugleich dreinschaut, wie Afghanen es oft tun. Amra und Roshi, ihre Adoptivtochter, sind auch darauf. Alle Kinder lächeln.
    »Markos.«
    Ich klappe das Handy zu und gehe nach unten.
    Thalia stellt mir ein Glas Milch und einen dampfenden Teller mit Eiern auf Tomaten hin. »Keine Sorge. Ich habe schon Zucker in die Milch getan.«
    »Das weißt du noch?«
    Sie setzt sich, ohne die Schürze abzunehmen, stützt die Ellbogen auf den Tisch und sieht mir beim Essen zu, tupft ihre linke Wange gelegentlich mit einem Taschentuch ab.
    Ich habe immer wieder versucht, sie zu einer Operation zu überreden. Ich habe ihr erklärt, dass die Chirurgie seit den sechziger Jahren gewaltige Fortschritte gemacht hat, dass ich ihre Wange vielleicht nicht wiederherstellen, auf jeden Fall aber in einen deutlich besseren Zustand bringen kann. Zu meiner tiefen Verwirrung hat Thalia jedes Mal abgelehnt. So sehe ich nun mal aus , sagte sie dann zu mir. Damals hielt ich diese Antwort für unbefriedigend und ausweichend. Was sollte das überhaupt heißen? Ich verstand es nicht. Ich musste gemeinerweise an Gefängnisinsassen denken, an lebenslänglich einsitzende Verbrecher, die sich vor der Entlassung oder Begnadigung fürchten, die Angst vor Veränderungen und einem neuen Leben jenseits von Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen haben.
    Mein Angebot an Thalia steht immer noch. Doch ich weiß, dass sie es nie annehmen wird, und ich kann sie inzwischen verstehen. Denn sie hat recht: Sie sieht nun mal so aus. Ich behaupte nicht, nachvollziehen zu können, was es heißt, täglich ein solches Gesicht im Spiegel zu sehen, seinen erschreckenden Verfall mitzuerleben und den Willen aufzubringen, sich in dieses Schicksal zu fügen. Das muss ungeheuer viel Kraft und Geduld kosten, und ich nehme an, dass es ein langsamer Prozess war, vergleichbar mit Felsen, die im Lauf der Jahre von der anbrandenden Flut abgeschliffen werden. Der Hund brauchte nur Minuten, um Thalias Gesicht zu entstellen, aber sie hat ein ganzes Leben dafür gebraucht, um dies als Teil ihrer Identität zu begreifen. Sie will nicht zulassen, dass ich diese Mühe mit meinem Skalpell zunichtemache; ich hätte in ihren Augen eine frische Wunde über die alte gelegt.
    Ich esse die Eier, obwohl ich kaum Appetit habe, weil ich weiß, dass sie das freut. »Köstlich, Thalia.«
    »Und? Bist du aufgeregt?«
    »Wie meinst du das?«
    Sie greift hinter sich und zieht eine Küchenschublade auf, holt eine Sonnenbrille mit rechteckigen Gläsern heraus. Ich begreife nicht sofort. Dann fällt es mir wieder ein: Die Sonnenfinsternis.
    »Ah, natürlich.«
    »Ich wollte sie erst durch eine Lochpappe anschauen«, sagt sie. »Aber als Odie sagte, du würdest kommen, habe ich mich für die stilvolle Variante entschieden.«
    Wir unterhalten uns kurz über die Sonnenfinsternis am folgenden Tag. Thalia sagt, sie beginnt morgens, und gegen Mittag wird die Sonne ganz verdeckt sein. Sie hat die Wettervorhersagen verfolgt und ist erleichtert, weil der Tag wolkenlos sein soll. Sie fragt, ob ich noch mehr Eier möchte, und ich bejahe, und dann erzählt sie mir von einem neuen Internetcafé, das in Herrn Roussos’ ehemaliger Pfandleihe eröffnet hat.
    »Ich habe die Fotos gesehen«, sage ich. »Oben. Und auch den Artikel.«
    Sie fegt die Brotkrümel mit der Hand vom Tisch, wirft sie, ohne hinzuschauen, über die Schulter in die Spüle. »Ach, das war leicht. Jedenfalls das Einscannen und Hochladen. Aber es war mühsam, sie nach Ländern zu ordnen. Das hat viel Grips gekostet, weil du die Fotos immer ohne Ortsangaben geschickt hast. Sie hat darauf bestanden, sie nach Ländern zu sortieren. Sie wollte es unbedingt so haben. Sie war nicht davon abzubringen.«
    »Wer?«
    Sie lacht kurz auf. »Wer? Natürlich Odie. Wer sonst?«
    »Das war ihre Idee?«
    »Auch der Artikel. Sie hat ihn im Netz entdeckt.«
    »Mamá hat im Internet nach mir gesucht?«, frage ich.
    »Ich hätte ihr das nie beibringen dürfen. Jetzt kann sie nicht mehr damit aufhören.« Sie lacht leise. »Sie schaut jeden Tag nach dir. Echt wahr. Du hast eine Stalkerin im Netz, Markos Varvaris.«
    * * *
    Mamá kommt am frühen Nachmittag runter. Sie trägt einen dunkelblauen Bademantel und die plüschigen Hausschuhe, die ich schon jetzt verabscheue. Sie

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