Traumsammler: Roman (German Edition)
vergeude. An manchen Tagen wäre ich ihn samt seiner Launen und seiner Hilflosigkeit am liebsten los. Ich bin weiß Gott keine Heilige.
Ich fahre bei der Thirteenth Street ab. Ein paar Meilen weiter, im Beaver Creek Court, biege ich in unsere Einfahrt ein und stelle den Motor ab.
Pari betrachtet vom Auto aus unser einstöckiges Haus, das Garagentor mit der abblätternden Farbe, die olivfarbenen Fensterrahmen, die kitschigen, steinernen Löwen auf beiden Seiten der Haustür. Ich habe es nicht über mich gebracht, sie zu entsorgen, denn Baba liebt sie, aber vielleicht hätte er es gar nicht bemerkt. Wir sind 1989 in dieses Haus gezogen, damals war ich sieben, und wohnten zur Miete, bis Baba das Haus 1993 gekauft hat. An einem sonnigen Morgen am Tag vor Weihnachten starb Mutter hier, im Krankenhausbett, das ich im Gästezimmer aufgestellt hatte. Sie verbrachte dort ihre letzten drei Lebensmonate. Sie bat mich, in das Zimmer umziehen zu dürfen, weil sie den Ausblick so schön fand. Sie meinte, er werde sie aufheitern. Sie lag mit geschwollenen, grauen Beinen im Krankenhausbett und schaute den ganzen Tag aus dem Fenster auf die Sackgasse, auf den Vorgarten mit den von ihr gepflanzten japanischen Ahornbäumen an den Seiten, dem sternförmigen Blumenbeet, dem schmalen, von einem Kiesweg durchschnittenen Rasenstreifen. Und in der Ferne sah sie die Gebirgsausläufer, die mittags, wenn die Sonne direkt darüber stand, in einem tiefen, satten Goldton leuchteten.
»Ich bin nervös«, sagt Pari leise.
»Kein Wunder«, sage ich. »Es ist achtundfünfzig Jahre her.«
Sie senkt den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände. »Ich habe fast keine Erinnerungen an ihn. Ich erinnere mich nicht einmal an sein Gesicht oder an seine Stimme. Ich weiß nur, dass ich mein Leben lang das Gefühl hatte, dass etwas fehlt. Etwas Gutes. Etwas … ach, ich weiß auch nicht.«
Ich nicke und verkneife mir die Bemerkung, dass ich sie gut verstehe. Stattdessen liegt mir die Frage auf der Zunge, ob sie je geahnt hat, dass es mich gibt.
Sie spielt mit den Fransen ihres Schals. »Ob er sich an mich erinnert? Meinst du, das wäre denkbar?«
»Möchtest du die Wahrheit hören?«
Sie mustert mich. »Ja, natürlich.«
»Er sollte sich besser nicht erinnern.« Ich muss an die Worte Dr. Bashiris denken, des langjährigen Hausarztes meiner Eltern. Er hat gesagt, Baba braucht Ordnung und Struktur. Möglichst keine Überraschungen. Einen geregelten Tagesablauf.
Ich öffne die Autotür. »Willst du kurz im Auto warten? Ich schicke meinen Freund nach Hause, und dann kannst du zu Baba.«
Sie legt eine Hand vor die Augen, und ich steige aus, bevor ich sehen kann, ob sie weint.
* * *
Als ich elf war, machten alle sechsten Klassen meiner Schule einen Ausflug zum Aquarium in Monterey Bay. Während der Woche vor dem Tag des Aufbruchs, einem Freitag, gab es in meiner Klasse kein anderes Thema, ob in der Bücherei oder während der Pause, wenn wir Himmel-und-Hölle spielten. Alle redeten davon, wie toll es sein würde, im Aquarium zu übernachten und abends, nach der Schließung, im Schlafanzug zwischen Hammerhaien und Flügelrochen, Großen Fetzenfischen und Quallen herumzulaufen. Unsere Lehrerin, Mrs Gillespie, erzählte uns, dass es überall im Aquarium Stände mit Essen gebe und dass wir die Auswahl zwischen Sandwichs mit Erdnussbutter und Marmelade und Cheeseburgern hätten. Und zum Nachtisch gibt es Brownies oder Vanilleeis , sagte sie. Die Schüler würden abends in ihre Schlafsäcke kriechen, die Lehrer würden ihnen noch eine Geschichte vorlesen, und sie würden zwischen Seepferdchen, Sardinen und Tigerhaien einschlummern, die durch wehende Seetangfelder glitten. Am Donnerstag knisterte die Luft in der Klasse vor Erwartung. Sogar die üblichen Störenfriede rissen sich im Unterricht zusammen, um nicht vom Ausflug ausgeschlossen zu werden.
Es fühlte sich so an, als würde ich einen aufregenden Film ohne Ton sehen. Ich hatte das Gefühl, außen vor zu sein, abseits der Fröhlichkeit und Feierlaune – wie im Dezember, wenn meine Schulkameraden nach Hause fuhren, zu Christbaum, über dem Kamin aufgehängten Strümpfen und Bergen von Geschenken. Schließlich sagte ich Mrs Gillespie, dass ich nicht mitfahren könne. Sie wirkte nicht überrascht. Auf ihre Frage nach dem Grund antwortete ich, dass der Tag der Klassenfahrt auf einen muslimischen Feiertag falle. Schwer zu sagen, ob sie das glaubte.
Am Abend der Klassenfahrt guckte ich mit meinen
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