Traumsammler: Roman (German Edition)
Farsi-Unterricht nach Campbell zu fahren. Ich musste jeden Dienstagnachmittag nach der Schule hin, und wenn ich versuchte, von rechts nach links zu schreiben, kam ich mir vor wie ein gegen den Strom schwimmender Fisch. Ich flehte Baba an, mit dem Farsi aufhören zu dürfen, aber er blieb hart. Ich würde ihm noch für diese Gabe danken, sagte er. Wenn man sich die Kultur als ein Haus vorstellt, erklärte er, ist die Sprache der Schlüssel zur Haustür und zu allen Zimmern. Ohne die Sprache, sagte er, ist man verloren, hat weder ein echtes Zuhause noch eine wirkliche Identität.
Dann waren da noch die Sonntage, wenn ich ein weißes Baumwollkopftuch anziehen und mich zum Koranunterricht bringen lassen musste. Der Unterrichtsraum in der Moschee in Hayward, in dem ich mit zwölf anderen muslimischen Mädchen saß, war winzig, hatte keine Klimaanlage und stank nach schmutzigem Leinen. Die schmalen Fenster saßen hoch oben in der Wand wie in Gefängniszellen, die man aus Filmen kennt. Unsere Lehrerin war die Frau eines Gemüsehändlers aus Freemont. Am liebsten mochte ich es, wenn sie uns spannende Geschichten aus dem Leben des Propheten erzählte: Über seine Kindheit in der Wüste oder wie ihm der Engel Gabriel in einer Höhle erschienen war und ihm befohlen hatte, Verse zu rezitieren, oder über sein gütig strahlendes Gesicht. Leider verbrachte sie die meiste Zeit damit, eine endlos lange Liste all jener Dinge durchzugehen, die wir als tugendhafte muslimische Mädchen um jeden Preis meiden sollten, um nicht von der westlichen Kultur verdorben zu werden: An allererster Stelle natürlich Jungs, aber auch Madonna, Melrose Place , Shorts, Tanzen, Baden in der Öffentlichkeit, Cheerleading, Alkohol, Speck, Peperoni, Burger mit unreinem Fleisch und so weiter und so fort. Ich saß auf dem Fußboden und schwitzte in der Hitze, meine Füße schliefen ein, und ich wünschte mir, das Kopftuch abnehmen zu dürfen, aber in einer Moschee war das natürlich undenkbar. Ich blickte zum schmalen Streifen Himmel auf, der durch die Fenster zu sehen war, und sehnte mich danach, die Moschee verlassen zu dürfen und wieder an der frischen Luft zu sein, weil sich der drückende Knoten in meiner Brust dann endlich löste.
Bis dahin bestand die einzige Fluchtmöglichkeit darin, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Ich ertappte mich manchmal bei dem Gedanken an Jeremy Warwick, einen Jungen aus dem Mathe-Unterricht. Jeremy hatte blaue Augen, einen lakonischen Blick und eine blonde Afro-Frisur. Er war verschlossen und grüblerisch. Er spielte Gitarre in einer Indie-Band – bei der jährlichen Talentshow der Schule spielten sie eine mitreißende Coverversion von House of the Rising Sun . Im Unterricht saß ich vier Reihen hinter ihm. Ich stellte mir vor, wie wir uns küssten, malte mir aus, dass er dabei die Hände um meinen Nacken schloss, dass sein Gesicht die ganze Welt zum Verschwinden brachte. Dann breitete sich ein so wohliges Gefühl in mir aus, als würde man meinen Bauch und meine Beine mit einer Feder streicheln. Aber das war nur ein schöner Traum, denn Jeremy und ich würden nie zusammenkommen. Er hatte nie auch nur durch das leiseste Anzeichen zu erkennen gegeben, dass er mich überhaupt wahrnahm. Und das war wohl auch besser so. Auf diese Weise konnte ich mir vormachen, dass wir nur deshalb nicht zusammenkamen, weil er mich nicht mochte.
Während des Sommers arbeitete ich im Restaurant meiner Eltern. Als ich noch jünger war, wischte ich gern die Tische ab, half beim Eindecken, faltete Papierservietten und stellte rote Gerberas in die kleinen, runden Vasen auf den Tischen. Ich redete mir ein, ich wäre in unserem Familienbetrieb unersetzlich, glaubte, das Restaurant wäre am Ende, wenn ich nicht darauf achtete, dass die Salz- und Pfefferstreuer immer gut gefüllt waren.
Als ich dann zur Highschool ging, fühlten sich die Tage in Abe’s Kabob-Haus lang und zäh an. Der Glanz, den das Restaurant für mich als Kind besessen hatte, war dahin. Der alte, brummende Getränkeautomat in der Ecke, die abwaschbaren Tischdecken, die fleckigen Plastiktassen, die altmodischen Namen der Gerichte auf den eingeschweißten Speisekarten ( Caravan Kabob, Khyberpass Pilaf, Seidenstraßenhühnchen ), das schlampig gerahmte Poster des afghanischen Mädchens mit den grünen Augen, ein Foto aus National Geographic . Als hätte ein Erlass verfügt, dass diese Augen an der Wand eines jeden afghanischen Restaurants hängen müssten. Gleich daneben hatte
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