Traumsammler: Roman (German Edition)
Erstgeborene, Isabelle, die Musik fürs Fernsehen schreibt, hat ihren ersten Auftrag für eine Filmmusik bekommen. Und Isabelles Mann, Albert, ist inzwischen Chefkoch in einem berühmten Pariser Restaurant.
»Ihr hattet auch ein Restaurant, non ?«, fragt sie. »Ich glaube, das hast du in einer E-Mail erwähnt.«
»Meine Eltern, ja. Mein Vater hat immer von einem Restaurant geträumt. Ich habe ihm dabei geholfen. Aber er musste es vor einigen Jahren verkaufen. Nachdem meine Mutter gestorben und Baba … nicht mehr dazu imstande war.«
»Ah. Tut mir leid, das zu hören.«
»Ach, was. Ich bin sowieso nicht für die Gastronomie geschaffen.«
»Ja, das glaube ich gern. Du bist eine Künstlerin.«
Während unseres ersten Telefonats und auf ihre Frage, was ich beruflich mache, habe ich ihr erzählt, dass ich von einem Kunststudium träume.
»Genau genommen bin ich eine Tippse.«
Sie hört aufmerksam zu, als ich ihr erkläre, dass ich für eine Firma tätig bin, die Daten für große US-Unternehmen verarbeitet. »Ich fülle Formulare aus. Broschüren, Quittungen, E-Mail-Verteiler, Kundenlisten und so weiter. Man muss vor allem schnell tippen können. Und die Bezahlung ist recht gut.«
»Verstehe«, sagt sie. Dann überlegt sie kurz und fügt hinzu: »Findest du die Arbeit interessant?«
Wir kommen auf der Fahrt nach Süden an Redwood City vorbei. Ich zeige aus dem Beifahrerfenster. »Siehst du das Gebäude? Das hohe mit dem blauen Schild?«
»Ja?«
»Dort wurde ich geboren.«
» Ah bon ?« Sie verdreht den Kopf, weil wir schon ein Stückchen weiter sind. »Du hast Glück.«
»Wieso?«
»Weil du weißt, wo du herkommst.«
»Um ehrlich zu sein, verschwende ich kaum einen Gedanken daran.«
» Bah , warum auch? Aber man sollte es wissen. Die eigenen Wurzeln kennen. Wissen, wo man als Mensch seinen Anfang genommen hat. Wenn man das nicht weiß, kommt einem das eigene Leben unwirklich vor. Wie ein Puzzle, tu comprends ? Als würdest du dich mitten in einer Geschichte, deren Anfang du verpasst hast, fragen, wie sie begonnen hat.«
So muss Baba sich jetzt fühlen: Ein Leben voller rätselhafter Lücken. Jeder Tag eine verwirrende Geschichte, ein Puzzle, das er irgendwie zusammensetzen muss.
Wir schweigen eine ganze Weile.
»Ob ich meine Arbeit interessant finde?«, sage ich. »Ich bin eines Tages nach Hause gekommen und habe gemerkt, dass in der Küche der Wasserhahn lief. Scherben lagen auf dem Fußboden, und das Gas brannte noch auf dem Herd. Da wusste ich, dass ich ihn nicht mehr unbeaufsichtigt lassen kann. Und weil ich mir keine feste Pflegerin leisten kann, habe ich eine Arbeit gesucht, die ich zu Hause erledigen kann. Ob sie mich interessiert oder nicht, fällt da nicht groß ins Gewicht.«
»Und das Kunststudium kann warten.«
»Das muss es.«
Ich befürchte, dass sie gleich sagen wird, wie glücklich Baba sich schätzen kann, eine Tochter wie mich zu haben, aber zu meiner Erleichterung nickt sie nur, lässt den Blick über die Schilder des Freeway schweifen. Andere Leute – vor allem Afghanen – betonen ständig, welch ein Glück Baba habe, welch ein Segen es sei, dass ich mich um ihn kümmere. Sie sprechen voller Bewunderung von mir. Sie halten mich für eine Heilige, die Tochter, die heldenhaft ein herrliches Leben voller Privilegien ausgeschlagen hat, um zu Hause ihren Vater zu pflegen. Erst die Mutter , sagen sie entzückt, und ihre Stimme trieft vor Sympathie, stelle ich mir vor. Die jahrelange Pflege. Welch eine Last! Und nun der Vater. Sie war nie eine Schönheit, sicher, aber sie hatte einen Verehrer. Er war Amerikaner, hatte etwas mit Solaranlagen zu tun. Sie hätte heiraten können. Aber sie hat es nicht getan. Wegen ihrer Eltern. Was hat sie nicht alles geopfert. Ach, jeder wünscht sich so eine Tochter. Sie preisen meine Geduld. Staunen über mich wie über einen Menschen, der eine Körperbehinderung oder eine schwere Sprachstörung gemeistert hat.
Aber so sehe ich mich selbst nicht. Wenn ich Baba an manchen Morgen auf dem Bett sitzen sehe, wenn er mich aus trüben Augen anschaut und ungeduldig darauf wartet, dass ich die Socken über seine trockenen, fleckigen Füße ziehe, wenn er mit kindischer Miene meinen Namen knurrt und die Nase auf eine Art krauszieht, die an ein ängstliches Nagetier erinnert, dann überkommt mich Widerwille. Dann verübele ich ihm, dass er ist, wie er ist. Ich verübele ihm, dass er mein Dasein so stark einschränkt, dass ich seinetwegen meine besten Jahre
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