Traumsammler: Roman (German Edition)
dunklen Locken und Augenbrauen, die wie meine fast zusammengewachsen sind. Außerdem ist sie größer, als ich dachte; das kann ich sehen, obwohl sie sitzt. Sie wartet auf der Bank neben einem Sandwich-Laden und schaut sich so scheu um, als hätte sie sich verlaufen. Sie hat schmale Schultern, eine zarte Figur und ein freundliches Gesicht. Die glatt nach hinten gekämmten Haare werden von einem gehäkelten Band gehalten. Sie trägt Ohrringe aus Jade, eine ausgewaschene Jeans, einen langen, lachsfarbenen Pullover und einen gelben Schal, den sie mit lässiger europäischer Eleganz um den Hals geschlungen hat. Sie hatte mir in ihrer letzten E-Mail geschrieben, dass sie den Schal als Erkennungszeichen tragen werde.
Weil sie mich noch nicht gesehen hat, bleibe ich kurz im Strom der Reisenden stehen, die Gepäckwagen durch das Terminal schieben, zwischen Fahrern, die Schilder mit den Namen der Fahrgäste hochhalten. Mein Herz hämmert wie wild, und ich denke: Sie ist es. Sie ist es. Sie ist es wirklich. Dann begegnen sich unsere Blicke, und ein Ausdruck des Erkennens überfliegt ihr Gesicht. Sie winkt.
Wir treffen uns vor der Bank. Ich habe wackelige Beine, sie lächelt. Sie hat eine reiskornbreite Lücke zwischen den oberen Vorderzähnen, lächelt aber genau wie Baba: Der linke Mundwinkel schwingt nach oben, das Gesicht liegt in Falten, die Augen schließen sich fast, der Kopf leicht zur Seite geneigt. Als sie aufsteht, sehe ich ihre Hände mit den knotigen Gelenken, die Finger, die sich am Knöchel vom Daumen fortbiegen, die erbsengroßen Knoten an den Handgelenken. Das sieht so schmerzhaft aus, dass mein Magen sich zusammenzieht.
Wir umarmen uns, und sie küsst mich auf die Wangen. Ihre Haut ist weich wie Filz. Als wir uns voneinander lösen, lässt sie ihre Hände auf meinen Schultern liegen, schiebt mich ein Stück von sich weg und betrachtet mein Gesicht, als wäre es ein Gemälde. Tränen treten ihr in die Augen, und sie strahlt.
»Tut mir leid, dass ich etwas spät dran bin.«
»Macht nichts«, sagt sie. »Endlich bei dir zu sein! Ich bin ja so froh.« Ihr französischer Akzent ist jetzt, da sie leibhaftig vor mir steht, noch stärker als am Telefon.
»Ich bin auch froh«, sage ich. »Wie war der Flug?«
»Ich habe eine Tablette genommen. Sonst hätte ich nicht schlafen können. Ich wäre die ganze Zeit wach gewesen. Weil ich zu glücklich und zu aufgeregt bin.« Sie sieht mich immer noch strahlend an, als könnte sie den Zauber brechen, wenn sie wegschaut, bis die Reisenden über Lautsprecher aufgefordert werden, unbeaufsichtigte Gepäckstücke zu melden. Ihr Gesicht entspannt sich ein wenig.
»Weiß Abdullah schon, dass ich komme?«
»Ich habe ihm erzählt, dass ich einen Gast mitbringe«, antworte ich.
Später, als wir im Auto sitzen, schaue ich sie immer wieder verstohlen an. Die Tatsache, dass Pari Wahdati in meinem Auto sitzt, nur wenige Zentimeter von mir entfernt, kommt mir vor wie ein Traum. Im einen Moment sehe ich sie klar vor mir – der gelbe Schal, die kurzen Härchen am Haaransatz, das kaffeebraune Muttermal unterhalb des linken Ohrs –, und im nächsten Moment verschwimmen ihre Züge wie im Nebel oder als würde ich sie durch eine beschlagene Scheibe betrachten. Ein kurzer Schwindel erfasst mich.
»Geht es dir gut?«, fragt sie, als sie den Sicherheitsgurt anlegt.
»Ich denke die ganze Zeit, dass du gleich wieder verschwindest.«
»Wie bitte?«
»Es ist … ich kann es kaum fassen«, sage ich mit einem nervösen Lachen. »Dass es dich wirklich gibt. Dass du tatsächlich hier bist.«
Sie nickt lächelnd. »Das geht mir genauso. Ich finde es auch seltsam. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie jemandem begegnet, der so heißt wie ich.«
»Ich auch nicht.« Ich lasse den Motor an. »Erzähl mir von deinen Kindern.«
Während ich vom Parkplatz fahre, berichtet sie von ihnen, nennt ihre Namen, als hätte ich sie von Geburt an gekannt, als wäre ich gemeinsam mit ihren Kindern aufgewachsen, hätte an Familienpicknicks, Ferienlagern und Sommerurlauben in Badeorten teilgenommen, wo wir Ketten aus Muscheln gebastelt und einander am Strand eingebuddelt hätten.
Ich wünschte, es wäre so gewesen.
Sie erzählt mir, dass ihr Sohn Alain – »Dein Cousin«, fügt sie hinzu – und seine Frau Ana ihr fünftes Kind bekommen haben, ein kleines Mädchen, und nach Valencia gezogen sind, wo sie ein Haus gekauft haben. » Finalement verlassen sie diese furchtbare Wohnung in Madrid!« Ihre
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