Traumsammler: Roman (German Edition)
Stipendium anbieten. Es handelt sich um eine der besten Kunsthochschulen des Landes. Da sagt man nicht einfach ab. Das ist eine einmalige Gelegenheit.
Das ist wahr , sagte er und setzte sich gerade hin. Er faltete die Hände, blies Luft hinein und wärmte sich an seinem Atem. Das verstehe ich natürlich. Und ich freue mich für dich. Ich sah ihm an, wie sehr er mit sich rang. Ich spürte auch, dass er Angst hatte. Nicht nur Angst um mich, weil mir dreitausend Meilen von zu Hause entfernt alles Mögliche passieren konnte. Sondern auch Angst vor mir. Davor, mich zu verlieren. Davor, dass ich vielleicht die Macht besaß, ihn durch meine Abwesenheit ins Unglück zu stürzen, sein Herz zu verletzen wie ein Dobermann ein kleines Kätzchen.
Ich musste an seine Schwester denken. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich meine Beziehung zu Pari – die in meiner Phantasie so lange und so eng mit mir verbunden gewesen war – längst gelöst. Ich dachte nur noch selten an sie. Ich war ihr im Laufe der Jahre genauso entwachsen wie meinen Plüschtieren oder meinem Lieblingspyjama. Aber jetzt dachte ich plötzlich wieder an sie und an das, was uns verbunden hatte. Wenn das, was man ihr angetan hatte, einer Welle glich, die sich weit vom Ufer entfernt gebrochen hatte, dann umspülten die Ausläufer dieser Welle jetzt meine Füße und flossen zurück ins Meer.
Baba räusperte sich und betrachtete mit glasigen Augen den dunklen Himmel und den wolkenverhangenen Mond.
Alles wird mich an dich erinnern.
Der sanfte, leicht panische Unterton seiner Worte verriet mir, dass er verletzt war, dass seine Liebe für mich so wahrhaftig, groß und dauerhaft war wie der Himmel, dass sie mich immer wieder erdrücken würde. Es war die Art von Liebe, die einen in die Ecke drängt und früher oder später vor die Wahl stellt: Entweder man entzieht sich, oder man bleibt und versucht, der Wucht zu trotzen, mit der sie einen einschränkt.
Ich strich von der dunklen Rückbank aus über sein Gesicht, und er schmiegte die Wange an meine Hand.
Was macht sie nur so lange? , murmelte er.
Sie schließt noch ab , sagte ich erschöpft. Ich sah meine Mutter auf das Auto zulaufen. Der Nieselregen hatte sich in einen Wolkenbruch verwandelt.
Einen Monat später, einige Wochen, bevor ich an die Ostküste fliegen wollte, um mir die Uni anzuschauen, ging meine Mutter zu Doktor Bashiri, weil die Magentabletten keine Wirkung mehr zeigten. Er schickte sie zu einer Ultraschalluntersuchung. Man entdeckte einen walnussgroßen Tumor in ihrem linken Eileiter.
* * *
»Baba?«
Er sitzt reglos und vornübergebeugt auf dem Sessel. Er trägt eine Jogginghose, auf seinen Unterschenkeln liegt eine karierte Wolldecke. Unter der braunen Strickjacke, die ich ihm im Vorjahr gekauft habe, trägt er ein bis zum Kragen zugeknöpftes Flannelhemd. Er trägt seine Hemden jetzt immer so, und er wirkt dadurch sowohl jungenhaft als auch gebrechlich, erweckt den Eindruck, als hätte er sich mit dem Alter abgefunden. Sein Gesicht ist heute etwas aufgequollen, weiße Haarsträhnen liegen wirr auf seinen Augenbrauen. Er guckt mit ernster, leicht verdutzter Miene Wer wird Millionär . Als ich ihn anspreche, starrt er weiter auf den Bildschirm, als hätte er nichts gehört. Schließlich reißt er den Blick los und schaut missmutig auf. Auf dem unteren linken Augenlid wölbt sich ein kleines Gerstenkorn. Er braucht eine Rasur.
»Darf ich kurz auf stumm stellen, Baba?«
»Ich gucke die Sendung«, sagt er.
»Ich weiß. Aber du hast Besuch.« Ich habe ihm am Vortag und heute Morgen noch einmal von Pari Wahdatis Besuch erzählt. Aber ich frage ihn nicht, ob er sich daran erinnert, denn ich habe schnell gemerkt, dass man ihn nicht bloßstellen darf. Wenn er etwas vergessen hat, ist ihm das peinlich, dann beginnt er, sich zu wehren, wird manchmal boshaft.
Ich nehme die Fernbedienung von der Sessellehne und stelle den Ton aus, mache mich auf einen Wutanfall gefasst. Als er zum ersten Mal einen hatte, war ich fest davon überzeugt, dass er mir etwas vorspielte, nur so tat als ob. Ich bin erleichtert, als er nur kurz schnauft.
Ich winke Pari herein, die vor der Wohnzimmertür im Flur steht. Sie kommt langsam auf uns zu, und ich stelle einen Stuhl für sie neben Babas Sessel. Sie ist schrecklich aufgeregt, das kann ich ihr ansehen. Sie sitzt kerzengerade und kreidebleich da, drückt die Knie zusammen, verschränkt die Finger und lächelt so verkniffen, dass ihre Lippen hell anlaufen. Ihr Blick hängt an
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