Traumsammler: Roman (German Edition)
Künstlerbedarf, wo er Pastellkreiden, Kohlestifte, Radiergummis, Anspitzer und Skizzenbücher kaufte. Manchmal setzte er sich einfach hinten ins Auto und ließ sich ziellos herumfahren. Auf meine Frage: Wohin soll es gehen, Sahib? , zuckte er nur mit den Schultern, und ich sagte: Sehr wohl, Sahib , legte den Gang ein und fuhr los. Ich kurvte stundenlang durch die Stadt, von einem Viertel zum nächsten, fuhr am Fluss Kabul bis nach Bala Hissar oder sogar bis zum Darul-Aman-Palast. Manchmal steuerte ich den außerhalb der Stadt gelegenen Ghargha-See an. Dort parkte ich dicht am Ufer und stellte den Motor aus, und Herr Wahdati saß stumm und reglos auf der Rückbank, offenbar zufrieden damit, durch das offene Fenster den von Baum zu Baum fliegenden Vögeln nachzuschauen und zu beobachten, wie sich das Sonnenlicht auf dem Wasser in Tausende winziger, tanzender Flecken auflöste. Ich musterte ihn verstohlen im Rückspiegel, und er kam mir vor wie der einsamste Mensch der Welt.
Herr Wahdati war so großzügig, mir einmal im Monat sein Auto für die Fahrt nach Shadbagh, meinem Geburtsort, zur Verfügung zu stellen. Dort besuchte ich meine Schwester Parwana und ihren Mann Saboor. Bei der Einfahrt ins Dorf wurde ich immer von einer johlenden Kinderhorde begrüßt. Sie rannten neben dem Auto her, trommelten auf die Kotflügel und gegen die Scheiben. Diese kleinen Frechdachse versuchten sogar, aufs Dach zu klettern, und ich musste sie verjagen, weil ich befürchtete, dass sie den Lack zerkratzen oder dem Auto eine Delle zufügen könnten.
Schau dich an, Nabi , sagte Saboor. Du bist eine richtige Berühmtheit.
Seine Kinder, Abdullah und Pari, hatten ihre Mutter verloren (Parwana war ihre Stiefmutter), und ich versuchte stets, mich um sie zu kümmern, vor allem um Abdullah, den großen Bruder, der die meiste Zuwendung zu brauchen schien. Ich bot ihm mehrmals an, eine Spritztour mit ihm zu machen, und er bestand immer darauf, seine kleine Schwester mitzunehmen, die er auf seinen Schoß setzte und gut festhielt, während wir über die rund um Shadbagh führende Holperpiste brausten. Ich erlaubte ihm, Scheibenwischer und Hupe zu betätigen, zeigte ihm, wie man Abblendlicht und Fernlicht einschaltete.
Nachdem der Wirbel um das Auto abgeflaut war, trank ich mit meiner Schwester und Saboor Tee und erzählte ihnen von meinem Leben in Kabul. Ich achtete darauf, nicht zu viel von Herrn Wahdati preiszugeben. Ich mochte ihn sehr, denn er war gut zu mir, und es wäre mir wie Verrat vorgekommen, wenn ich hinter seinem Rücken über ihn geredet hätte. Wäre ich kein so diskreter Angestellter gewesen, hätte ich ihnen erzählt, dass Suleiman Wahdati mir Rätsel aufgab, denn er schien sich mit der Aussicht zufriedenzugeben, bis zu seinem Tod von seinem ererbten Vermögen zu leben. Er war ein Mann ohne Beruf, ohne erkennbare Leidenschaften oder den Drang, auf dieser Welt seine Spuren zu hinterlassen. Ich hätte ihnen erzählt, dass sein Leben weder Sinn noch Richtung hatte. Wie die ziellosen Fahrten, die wir unternahmen. Er verbrachte sein Leben gleichsam auf der Rückbank, sah zu, wie die Welt an ihm vorbeizog. Er nahm an nichts Anteil.
All dies hätte ich erzählen können, doch ich tat es nicht. Und das war gut so. Denn wie sich schließlich herausstellen sollte, hatte ich mich gründlich geirrt.
* * *
Eines Tages betrat Herr Wahdati den Hof in einem eleganten Nadelstreifenanzug, den er in meiner Gegenwart noch nie getragen hatte, und bat mich, ihn in ein besonders wohlhabendes Viertel von Kabul zu fahren. Als wir dort ankamen, wies er mich an, vor einem schönen, von einer hohen Mauer umgebenen Haus am Straßenrand zu halten. Ich sah zu, wie er am Tor klingelte und eintrat, nachdem ein Diener geöffnet hatte. Das Haus war noch viel größer und schöner als das von Herrn Wahdati. Die Einfahrt säumten schlanke, hohe Zypressen und exotische Büsche. Der Garten war mindestens doppelt so groß wie unserer, die Mauer so hoch, dass man das, was sich dahinter verbarg, nicht einmal hätte sehen können, wenn man auf den Schultern von jemand anderem gestanden hätte. All dies zeugte von einem Reichtum, der den von Herrn Wahdati weit überstieg.
Es war ein Frühsommertag, und die Sonne schien. Durch die offenen Autofenster wehte warme Luft herein. Die Aufgabe eines Chauffeurs besteht zwar im Fahren, aber in Wahrheit verbringt man die meiste Zeit mit Warten. Man wartet mit laufendem Motor vor Geschäften, man wartet während einer
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