Traumsammler: Roman (German Edition)
schaut über die Schulter zu ihrer Schwester, und Masooma sieht sie an, und beide lachen wie aus einem Mund, als die streunenden Hunde davonstieben.
Parwana wandert in ihr neues Leben. Sie geht weiter, immer weiter, durch eine Dunkelheit wie die des Mutterleibes, und als sie im dunstigen Morgengrauen den Kopf hebt und auf der Ostseite eines Felsbrockens einen Streifen fahlen Lichts erblickt, hat sie das Gefühl, gerade neu geboren worden zu sein.
Vier
Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Wenn Sie diesen Brief in Händen halten, werde ich nicht mehr sein, Mr Markos, denn Sie haben ihn mit der Bitte erhalten, ihn erst nach meinem Tod zu lesen. Sie sollen wissen, dass unsere sieben Jahre währende Freundschaft sehr wichtig für mich war, Mr Markos. Während ich dies schreibe, denke ich mit Freude an unser jährliches Ritual des Tomatenpflanzens, an Ihre morgendlichen Stippvisiten in meiner kleinen Hütte, den gemeinsamen Tee, die fröhlichen Gespräche und den spontanen Unterricht auf Englisch und auf Farsi. Ich danke Ihnen für Ihre Freundschaft, Ihre Fürsorglichkeit und auch für den Einsatz, den Sie in diesem Land gezeigt haben, und ich vertraue darauf, dass Sie meine Dankbarkeit Ihren freundlichen Kollegen zur Kenntnis bringen, vor allem meiner Freundin, Miss Amra Ademovic, und Roshi, ihrem wunderbaren Mädchen.
Sie müssen wissen, dass dieser Brief nicht nur an Sie allein gerichtet ist, und ich hoffe inständig, dass Sie ihn an die zweite Adressatin weiterreichen können. Dazu später mehr. Bitte verzeihen Sie, wenn ich auf manche Dinge eingehe, über die Sie längst im Bilde sind, aber ich muss sie wohl oder übel für die zweite Adressatin erwähnen. Wie Sie sehen werden, Mr Markos, ist dieser Brief mehr als nur ein kleines Geständnis, aber ich habe auch ganz pragmatische Gründe dafür, ihn zu schreiben. Was diese betrifft, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, mein Freund.
Ich habe lange überlegt, wo ich anfangen soll. Keine leichte Aufgabe für einen Mann Mitte siebzig. Wie viele Afghanen meiner Generation kenne ich mein genaues Alter nicht, denke aber, dass ich es einigermaßen treffend geschätzt habe, denn ich kann mich noch gut an einen Faustkampf mit meinem Freund und späteren Schwager Saboor erinnern. Wir trugen diesen Kampf an dem Tag aus, als wir erfuhren, dass man Nadir Schah erschossen hatte und dass ihm sein Sohn, der junge Sahir, auf dem Thron nachgefolgt war. Das war 1933. Ich könnte in jenem Jahr beginnen. Oder zu einem anderen Zeitpunkt. Eine Geschichte gleicht einem fahrenden Zug: Wo und wann man aufspringt, tut nichts zur Sache, weil man das Ziel früher oder später sowieso erreicht. Ich bin aber der Auffassung, diese Geschichte so beginnen zu müssen, wie sie enden wird. Ja, ich halte es für angemessen, diesen Bericht mit Nila Wahdati zu beschließen.
* * *
Ich bin ihr 1949 begegnet. In jenem Jahr heiratete sie Herrn Wahdati. Damals hatte ich schon zwei Jahre in den Diensten von Herrn Suleiman Wahdati gestanden, nachdem ich 1946 von Shadbagh, meinem Geburtsort, nach Kabul gezogen war. Zuvor war ich ein Jahr lang in einem anderen Haus im gleichen Viertel tätig gewesen. Ich bin nicht gerade stolz auf die Umstände, unter denen ich Shadbagh verlassen habe, Mr Markos. Sie dürfen es als mein erstes Geständnis lesen, wenn ich Ihnen anvertraue, dass mir das dörfliche Leben, das ich gemeinsam mit meinen Schwestern führte, eine davon schwerbehindert, die Luft nahm. Das mag mich nicht freisprechen, aber ich war damals ein junger Mann, Mr Markos, der jede Menge Träume hatte, egal wie bescheiden und vage diese auch gewesen sein mögen, ein junger Mann, der darauf brannte, in die Welt hinauszuziehen. Ich fürchtete, dass mir die Jugend zwischen den Fingern zerrinnen, dass meine Zukunftsaussichten schwinden könnten. Also verließ ich das Dorf unter dem Vorwand, meine Schwestern finanziell unterstützen zu wollen, aber in Wahrheit wollte ich einfach nur weg.
Da ich von morgens bis abends bei Herrn Wahdati beschäftigt war, durfte ich auch auf seinem Grundstück wohnen. Damals befand sich das Haus nicht in dem beklagenswerten Zustand, in dem Sie es 2002, bei Ihrer Ankunft in Kabul, vorgefunden haben, Mr Markos. Es war ein schönes, geradezu herrliches Anwesen. Das Haus glänzte damals, als wäre es mit Diamanten verkleidet. Die Tore öffneten sich zu einer breiten, geteerten Einfahrt. Beim Betreten des Hauses fand man sich in einem hohen Foyer mit riesigen
Weitere Kostenlose Bücher