Traumsammler: Roman (German Edition)
Aber zu welchem Zweck? Um ihr Gewissen zu erleichtern, und das schon wieder auf Masoomas Kosten? Sie schluckt die Worte hinunter. Sie hat ihrer Schwester mehr als genug Schmerzen zugefügt.
»Ich möchte jetzt rauchen«, sagt Masooma.
Parwana will etwas einwenden, doch Masooma schneidet ihr das Wort ab. »Höchste Zeit«, sagt sie noch entschiedener, ja, endgültig.
Parwana holt die Wasserpfeife aus einem am Sattelknauf hängenden Beutel. Ihre Hände zittern, als sie Tabak und Opium miteinander vermischt.
»Mehr«, sagt Masooma. »Viel mehr.«
Parwana, schluchzend und mit tränennassen Wangen, fügt noch eine Prise hinzu, dann eine weitere und noch eine. Sie entfacht die Kohle und stellt die Wasserpfeife neben ihre Schwester.
»Gut«, sagt Masooma, deren Augen und Wangen im Feuerschein rötlich glühen. »Wenn du mich je geliebt hast, Parwana, wenn du mir je eine echte Schwester warst, dann geh jetzt. Keine Küsse. Kein Abschied. Ich will dich nicht anflehen.«
Parwana will etwas erwidern, aber Masooma stößt einen erstickten, gequälten Laut aus und wendet den Kopf ab.
Parwana steht langsam auf. Sie geht zum Maultier und zieht den Sattelgurt straff. Als sie den Zügel packt, fragt sie sich plötzlich, wie sie ohne Masooma leben soll. Wie wird sie die Tage überstehen, an denen Masoomas Abwesenheit schwerer auf ihr lastet als die Anwesenheit ihrer Schwester? Wie soll sie lernen, die tiefe und riesige Leerstelle zu füllen, die Masooma hinterlassen wird?
Sie hat auf einmal Masoomas Stimme im Ohr: Nimm dir ein Herz.
Parwana zieht am Zügel, wendet das Maultier und setzt sich in Bewegung.
Sie bahnt sich einen Weg durch die Finsternis, und ein kühler Wind peitscht ihr ins Gesicht. Sie geht mit gesenktem Kopf. Sie dreht sich nur einmal um, und das erst nach einer ganzen Weile. Ihr Tränenschleier lässt das ferne Lagerfeuer zu einem Fleck aus trübem Gelb verschwimmen. Sie stellt sich vor, wie ihre Zwillingsschwester allein in der Dunkelheit am Feuer liegt. Das Feuer wird bald erlöschen, und Masooma wird frieren, und Parwana würde am liebsten ihrem Instinkt folgen und umkehren, ihre Schwester zudecken und sich neben sie legen.
Aber sie zwingt sich weiterzugehen.
Und da hört sie etwas. Einen weit entfernten, dumpfen Klagelaut. Parwana bleibt wie angewurzelt stehen. Als sie den Kopf schief legt, hört sie den Laut noch einmal. Ihr Herz beginnt zu hämmern. Sie fragt sich entsetzt, ob Masooma nach ihr ruft, weil sie sich doch noch anders besonnen hat. Aber es könnte auch ein Schakal oder Wüstenfuchs sein, der in der Dunkelheit heult. Parwana weiß es nicht genau. Es ist vielleicht nur der Wind.
Lass mich nicht allein, Schwester. Kehr um.
Parwana kann nur Gewissheit erlangen, indem sie umkehrt, und genau das tut sie. Sie geht ein paar Schritte in Masoomas Richtung. Dann bleibt sie stehen. Masooma hat recht. Wenn sie jetzt umkehrt, würde ihr morgen, nach Sonnenaufgang, der Mut fehlen. Sie würde ins Wanken kommen und bleiben. Für immer bleiben. Dies ist ihre einzige Chance.
Parwana schließt die Augen. Der Wind peitscht das Tuch gegen ihr Gesicht.
Niemand müsste es wissen. Niemand würde es je erfahren. Es wäre ihr Geheimnis, eines, das nur die Berge mit ihr teilen würden. Die Frage ist aber, ob es ein Geheimnis wäre, mit dem sie leben könnte, und Parwana glaubt, die Antwort zu kennen: Sie hat ihr Leben lang mit Geheimnissen gelebt.
Der ferne, klagende Laut ertönt noch einmal.
Alle haben dich geliebt, Schwester.
Mich hat niemand geliebt.
Warum nur, Schwester? Was habe ich getan?
Parwana steht lange reglos in der Finsternis.
Schließlich trifft sie eine Entscheidung. Mit gesenktem Kopf geht sie auf einen Horizont zu, den sie nur erahnen kann. Sie dreht sich nicht mehr um, kein einziges Mal. Wenn sie das täte, würde sie schwach werden, das weiß sie. Ihre Entschlossenheit würde schwinden wie Schnee in der Sonne, weil sie ein altes Fahrrad vor Augen hätte, das über Stock und Stein einen Hügel hinabsaust und Staub aufwirbelt, wenn es scharf in die Kurve geht. Parwana wird auf der Stange durchgeschüttelt, und Masooma sitzt im Sattel und legt das Fahrrad schräg, wenn sie ohne zu bremsen in die Haarnadelkurven geht. Parwana fürchtet sich nicht. Denn ihre Schwester wird darauf achten, dass sie nicht über die Lenkstange fliegt, ihre Schwester wird dafür sorgen, dass ihr nichts passiert. Die Welt verschwimmt zu einem Strudel der Aufregung, und der Wind pfeift in ihren Ohren, und Parwana
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