Traumsammler: Roman (German Edition)
Stift in der Hand und einen Berg loser Zettel auf dem Schoß. Wenn ich abends das Essen servierte, speisten sie mit vielsagendem Schweigen, den Blick auf den Teller mit Reis gesenkt, und die Stille wurde nur von einem gemurmelten Danke und dem Klappern von Löffeln und Gabeln auf den Porzellantellern unterbrochen.
Ein- oder zweimal pro Woche musste ich Nila chauffieren, wenn sie Zigaretten oder Stifte, Notizbücher oder Make-up brauchte. Wenn ich im Voraus Bescheid wusste, kämmte ich mir die Haare und putzte mir mit den Fingern die Zähne. Ich wusch mir das Gesicht, rieb meine Hände mit einer Zitronenscheibe ab, um den Zwiebelgeruch loszuwerden, klopfte mir den Staub vom Anzug und polierte meine Schuhe. Der olivgrüne Anzug war mir von Herrn Wahdati überlassen worden, was er Nila, wie ich inständig hoffte, verschwiegen hatte – ich argwöhnte jedoch, dass er es ihr erzählt hatte, nicht aus Bosheit, sondern weil Leute in der Position von Herr Wahdati häufig nicht ahnen, dass triviale Kleinigkeiten dieser Art einen Angestellten wie mich beschämen können. Ich trug manchmal sogar die Lammfellmütze, die meinem verstorbenen Vater gehört hatte. Dann stand ich vor dem Spiegel und probierte die Mütze so oder so auf und war so damit beschäftigt, mich Nila von meiner besten Seite zu zeigen, dass ich eine Wespe erst dann bemerkt hätte, nachdem ich längst von ihr gestochen worden wäre.
Ich versuchte, unterwegs kleine Umwege zu nehmen, um die Fahrt in die Länge zu ziehen, durfte aber höchstens ein oder zwei Minuten herausschinden, denn ich wollte nicht ihr Misstrauen wecken, sondern nur etwas mehr Zeit mit ihr verbringen. Ich umfasste das Lenkrad mit beiden Händen und konzentrierte mich auf die Straße. Ich riss mich mächtig zusammen und sah sie nur im Rückspiegel an, wenn sie mich ansprach. Ich gab mich damit zufrieden, dass sie auf der Rückbank saß und ihren Duft verströmte – nach teurer Seife, Lotion, Parfüm, Kaugummi, Zigarettenrauch. Das reichte meist schon, um mich in den siebten Himmel zu befördern.
Auf einer der Autofahrten unterhielten wir uns auch zum ersten Mal. Ich meine, so richtig, abgesehen von den vielen Bitten, die sie geäußert hatte, ihr dieses zu holen oder jenes zu tragen. Ich fuhr sie gerade zu einer Apotheke, weil sie Medikamente abholen wollte, und sie fragte: »Wie ist dein Dorf so, Nabi? Wie heißt es noch?«
»Shadbagh, Bibi Sahib.«
»Ja, Shadbagh. Wie ist es? Erzähl.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen, Bibi Sahib. Es ist ein Dorf wie jedes andere.«
»Aber es muss doch irgendetwas Besonderes geben.«
Ich blieb nach außen gelassen, dachte insgeheim jedoch wie verrückt nach, zerbrach mir den Kopf über irgendeine nette Besonderheit, die sie vielleicht amüsieren könnte. Wie konnte ich, ein Mann aus der Provinz, ärmlich und mit bescheidenem Leben, auf etwas kommen, das eine Frau wie sie faszinierte?
»Die Weintrauben sind ausgezeichnet«, sagte ich und hätte mich am liebsten sofort selbst geohrfeigt. Weintrauben?
»Tatsächlich?«, antwortete sie lahm.
»Ausgesprochen süß.«
»Aha.«
Ich starb innerlich tausend Tode. Ich spürte, wie ich zu schwitzen begann.
»Da gibt es eine bestimmte Sorte Trauben«, sagte ich, und mein Mund war plötzlich wie ausgedörrt. »Sie gedeiht angeblich nur in Shadbagh. Sie ist sehr empfindlich, wissen Sie, sehr sensibel. Wenn man versucht, sie an einem anderen Ort anzupflanzen, und sei es nur im nächsten Dorf, dann verwelkt sie und stirbt. Sie geht ein. Die Leute in Shadbagh sagen, dass sie vor Trauer stirbt, aber das ist natürlich Unsinn. Es liegt am Boden und am Wasser. Aber das erzählt man sich, Bibi Sahib. Trauer.«
»Das ist wirklich bezaubernd, Nabi.«
Ich riskierte einen kurzen Blick in den Rückspiegel und sah, dass sie aus dem Seitenfenster schaute. Zu meiner großen Erleichterung bemerkte ich, dass sie die Mundwinkel zu einem flüchtigen Lächeln nach oben gezogen hatte. Das machte mir Mut, und ich hörte mich sagen: »Darf ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen, Bibi Sahib?«
»Unbedingt.« Das Feuerzeug klickte, und Zigarettenrauch wölkte von der Rückbank nach vorn.
»Wir haben einen Mullah in Shadbagh. Natürlich hat jedes Dorf einen Mullah. Bei uns heißt er Mullah Shekib, und er steckt voller Geschichten. Er kennt so viele, dass ich die meisten vergessen habe. Aber eine habe ich behalten: Wenn man die Handflächen eines Muslims betrachtet, ganz gleich an welchem Ort auf dieser Welt, dann wird man
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