Traumsammler: Roman (German Edition)
Besuches war angespannt, unangenehm, ja feindselig gewesen. Es fühlte sich nicht mehr vertraut an, wenn wir zusammensaßen, Tee tranken und über das Wetter oder die Traubenernte plauderten. Saboor und ich täuschten eine Normalität vor, die es nicht mehr gab. Unter dem Strich war es meine Schuld, dass die Familie auseinandergerissen worden war. Saboor wollte mich nicht mehr wiedersehen, und das konnte ich verstehen. Ich stellte meine monatlichen Besuche ein. Ich sah keinen von ihnen jemals wieder.
* * *
1955, kurz nach Frühlingsbeginn, geschah etwas, das das Leben im Haus der Wahdatis für immer veränderte. An dem betreffenden Vormittag regnete es, Mr Markos. Nicht in Strömen, so dass die Frösche gequakt hätten, sondern unstet und leicht. Ich weiß noch, dass Zahid, der Gärtner, wie üblich faul auf dem Rechen lehnte und murmelte, dass er wegen des Mistwetters ebenso gut Feierabend machen könne. Ich wollte gerade in meiner Hütte Schutz vor dem Regen suchen, da hörte ich, wie Nila im Haupthaus meinen Namen schrie.
Ich rannte durch den Garten zum Haus. Ihre Stimme kam von oben, aus dem großen Schlafzimmer. Nila stand dort in einer Ecke vor der Wand, eine Hand auf den Mund gepresst. »Was ist los mit ihm?«, fragte sie, ohne die Hand wegzuziehen.
Herr Wahdati saß im weißen Unterhemd aufrecht im Bett und stieß kehlige, unverständliche Laute aus. Seine Miene war bleich und verzerrt, die Haare zerzaust. Er versuchte immer wieder vergeblich, eine Bewegung mit dem rechten Arm auszuführen, und ich sah mit Entsetzen, dass Speichel aus einem Mundwinkel troff.
»Nabi! Tu doch was!«
Pari, damals sechs Jahre alt, kam dazu, lief zu Herrn Wahdati und zupfte an seinem Unterhemd. »Papa? Papa?« Er sah auf sie herab, die Augen weit aufgerissen, und sein Mund klappte auf und zu. Pari begann zu schreien.
Ich nahm sie rasch auf die Arme, trug sie zu Nila und bat sie, das Kind wegzubringen, damit es seinen Vater nicht in diesem Zustand sah. Nila blinzelte, als würde sie aus einer Trance erwachen, und sie blickte von mir zu Pari. Dann nahm sie das Kind, fragte mich aber unaufhörlich, was mit ihrem Mann sei, und forderte mich auf, etwas zu tun.
Ich trat an das Fenster und rief Zahid, und der Dummkopf war ausnahmsweise von Nutzen. Er half mir, Herrn Wahdati eine Pyjamahose anzuziehen. Danach hoben wir ihn aus dem Bett, trugen ihn nach unten und betteten ihn auf die Rückbank des Autos. Nila setzte sich neben ihn. Ich befahl Zahid, auf Pari aufzupassen. Als er etwas einwenden wollte, verpasste ich ihm mit der flachen Hand einen Schlag gegen die Schläfe. Ich sagte, er sei ein Esel, und er solle gehorchen.
Dann setzte ich den Wagen in der Einfahrt zurück und fuhr zum Krankenhaus. Es dauerte zwei Wochen, bis wir Herrn Wahdati wieder nach Hause holen konnten. Es war das reinste Chaos. Die Familie fiel scharenweise bei uns ein. Ich war rund um die Uhr damit beschäftigt, für irgendwelche Onkel, Cousins oder alte Tanten Tee zu kochen und Essen zuzubereiten. Die Glocke am Tor schellte ununterbrochen, Schritte hallten auf dem Marmorfußboden des Wohnzimmers, im Flur erklang das Gemurmel zahlloser Besucher. Die meisten hatte ich bis dahin nur selten zu Gesicht bekommen und ahnte, dass sie nicht dem kranken, menschenscheuen und ihnen nur flüchtig bekannten Herrn Wahdati ihre Reverenz erweisen wollten, sondern seiner matronenhaften Mutter. Sie erschien natürlich auch, die Mutter, zum Glück ohne ihre Hunde. Sie stürmte in das Haus, in jeder Hand ein Taschentuch, und tupfte sich die roten Augen und die Nase ab. Sie pflanzte sich neben dem Bett des Kranken auf und heulte wie ein Schlosshund. Zu meinem Entsetzen trug sie Schwarz, als wäre ihr Sohn schon tot.
Was in gewisser Weise zutraf: Eine Gesichtshälfte war erstarrt, und Herr Wahdati konnte die Beine kaum noch bewegen; der rechte Arm war schlaff und nutzlos, der linke dagegen noch funktionstüchtig. Wenn er etwas sagen wollte, stieß er heisere Stöhnlaute aus, aus denen niemand schlau wurde.
Laut des Arztes konnte er denken und fühlen wie vor dem Schlaganfall, nur war es ihm vorläufig unmöglich, seinen Gefühlen und Gedanken entsprechend zu handeln.
Das stimmte nicht ganz, denn seine Gefühle bezüglich der Besucher, auch seiner Mutter, brachte er schon nach einer Woche klar zum Ausdruck. Er blieb sogar während seiner schweren Krankheit ein zutiefst eigenbrötlerischer Mensch. Und er verabscheute das Mitleid, die betrübten Blicke und das Kopfschütteln
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