Traumsammler: Roman (German Edition)
Veranda wird nur von zwei unter der Decke hängenden Glühbirnen erhellt. Idris kann hinten im Garten den Umriss irgendeiner Unterkunft erkennen und rechts die Silhouette eines langen, großen, alten Wagens. Der Schwung der Karosserie deutet auf ein amerikanisches Modell aus den vierziger, vielleicht aus den frühen fünfziger Jahren hin. Es ist zu dunkel, und Idris hat sich nie für Autos interessiert. Timur würde es bestimmt wissen. Er könnte auf Anhieb Modell, Baujahr und PS nennen, einfach alles. Offenbar sind alle vier Reifen platt. In der Nähe bellt ein Hund im Stakkato. Im Haus läuft jetzt eine CD von Leonard Cohen.
»Ruhig und gefühlvoll.«
Amra setzt sich neben ihn, in ihrem Glas klirren Eiswürfel, sie ist barfuß.
»Dein Cousin, der Cowboy, er ist das Herz dieser Party.«
»Das wundert mich nicht.«
»Er sieht blendend aus. Ist er verheiratet?«
»Ja, und er hat drei Kinder.«
»Zu dumm. Dann bin ich ganz brav.«
»Er wäre bestimmt enttäuscht, das zu hören.«
»Ich habe Regeln«, sagte sie. »Du magst ihn nicht besonders.«
Idris antwortet wahrheitsgemäß, dass Timur wie ein Bruder für ihn ist.
»Aber er ist dir peinlich.«
Das stimmt. Timur ist ihm tatsächlich peinlich. Er hat sich, denkt Idris, wie ein typisch afghanischstämmiger Amerikaner aufgeführt. Er geht durch diese kriegsverheerte Stadt, als wäre er hier zu Hause, klopft Einheimischen großspurig auf den Rücken, nennt sie Bruder, Schwester, Onkel, bläst sich mächtig auf, wenn er Bettlern Geld aus dem von ihm so genannten bakschisch -Bündel gibt, scherzt mit alten Frauen, die er mit Mutter anredet und dazu bringt, ihre Geschichte vor laufendem Camcorder zu erzählen, indem er sich betroffen gibt und so tut, als wäre er einer von ihnen, als hätte er dieses Land nie verlassen und nicht in San José im Fitnessstudio Gewichte gestemmt und Brust und Bizeps gestählt, während diese Menschen bombardiert, massakriert und vergewaltigt wurden. Idris empfindet das als widerwärtig und heuchlerisch, und er begreift nicht, warum niemand diese Show durchschaut.
»Er hat dich angelogen«, sagt Idris. »Wir sind hier, um das Haus zurückzufordern, das früher unseren Vätern gehört hat. Das ist der einzige Grund.«
Amra lacht schnaubend. »Ich wusste es. Glaubst du, ich gehe euch auf den Leim? Ich habe hier mit Warlords und Taliban zu tun gehabt. Ich habe alles erlebt. Mich kann nichts mehr umhauen. Nichts und niemand kann mich täuschen.«
»Ja, das glaube ich dir.«
»Du bist ehrlich«, sagt sie. »Du bist wenigstens ehrlich.«
»Ich finde, dass wir diesen Menschen, die so viel mitgemacht haben, Achtung entgegenbringen müssen. Und mit ›wir‹ meine ich Leute wie Timur und mich. Leute, die gelebt haben wie die Maden im Speck, während dieses Land in Schutt und Asche gelegt wurde. Wir dürfen nicht so tun, als wären wir echte Afghanen. Wir sind anders. Und die Geschichten, die die Menschen hier zu erzählen haben, tja, wir haben genau genommen kein Recht darauf. Aber ich schwadroniere.«
»Schwadroniere?«
»Ich rede Unsinn.«
»Ich verstehe«, sagt sie. »Du meinst, dass ihre Geschichten ein Geschenk an dich sind.«
»Ja. Ein Geschenk.«
Sie trinken noch mehr Wein. Und sie unterhalten sich eine ganze Weile. Idris hat zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Kabul das Gefühl, ein echtes Gespräch zu führen, eines ohne den latenten Spott und den vorwurfsvollen Unterton, den er aus den Worten der Einheimischen, der Regierungsbeamten, der Leute in den Hilfsorganisationen herausgehört hat. Er erkundigt sich nach Amras Arbeit, und sie erzählt, dass sie in Bosnien für die Vereinten Nationen tätig war, dann, nach dem Genozid, in Ruanda, in Kolumbien und Burundi. Sie hat sich in Kambodscha um Kinderprostituierte gekümmert. In Kabul hält sie sich seit einem Jahr auf. Es ist ihre dritte Mission, dieses Mal arbeitet sie für eine kleine NGO im Ali-Abad-Krankenhaus. Sie leitet jeden Montag eine mobile Klinik. Zweimal verheiratet, zweimal geschieden, kinderlos. Idris versucht vergeblich, ihr Alter zu schätzen, aber sie ist bestimmt jünger, als sie aussieht. Die von Müdigkeit gezeichneten Augen und die verfärbten Zähne verbergen eine verwelkende Schönheit und eine ungestüme Sinnlichkeit. Noch vier oder fünf Jahre, denkt Idris, dann wird auch das verblassen.
Schließlich fragt sie: »Willst du wissen, was Roshi passiert ist?«
»Du musst es mir nicht erzählen«, erwidert er.
»Glaubst du, ich bin blau?«
»Bist
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