Traumsammler: Roman (German Edition)
du’s denn?«
»Ein bisschen«, sagt sie. »Aber du bist ein ehrlicher Typ.« Sie tippt ihm sanft und etwas neckisch auf die Schulter. »Du fragst aus den richtigen Gründen. Andere Afghanen wie du, im Westen lebende Afghanen, sind nur – wie sagt man? – Blickfröhliche.«
»Schaulustige.«
»Genau.«
»Eine Art Spanner.«
»Vielleicht bist du ein guter Mensch.«
»Wenn du es mir erzählst«, sagt er, »betrachte ich das als Geschenk.«
Also erzählt sie ihm alles.
Roshi lebte mit ihren Eltern, zwei Schwestern und einem kleinen Bruder in einem Dorf zwischen Kabul und Bagram. Vor einem Monat kam ihr Onkel, der ältere Bruder des Vaters, an einem Freitag zu Besuch. Die Brüder hatten sich seit über einem Jahr wegen des Grundstücks gestritten, auf dem Roshi mit ihrer Familie lebte und das der Onkel als älterer Bruder für sich beanspruchte, obwohl es vom Vater an den jüngeren, von ihm vorgezogenen Sohn vererbt worden war. Am Tag des Besuches schien jedoch Frieden zwischen den Brüdern zu herrschen.
»Er sagte, er wolle den Streit beilegen.«
Roshis Mutter hatte vorsorglich zwei Hühner geschlachtet, eine große Schüssel Reis mit Rosinen gekocht und auf dem Markt frische Granatäpfel gekauft. Als der Onkel eintraf, umarmten und küssten sich die Brüder. Roshis Vater drückte seinen Bruder so fest, dass er ihn kurz vom Teppich hob. Roshis Mutter weinte vor Erleichterung. Die Familie ließ sich zum Essen nieder. Alle taten sich ein zweites und drittes Mal auf. Dann aßen sie Granatäpfel, anschließend gab es grünen Tee und Karamelgebäck. Nach dem Essen sagte der Onkel, er wolle kurz in die Scheune.
Er kehrte mit einer Axt zurück.
»Wie man sie zum Baumfällen benutzt«, fügt Amra hinzu.
Roshis Vater starb als Erster. »Roshi erzählte mir, dass ihr Vater gar nicht begriff, was geschah. Er bekam nichts mit.«
Hinterrücks ein einziger Hieb in den Nacken. Roshis Vater wäre fast enthauptet worden. Dann war die Mutter an der Reihe. Roshi sah, wie sie sich wehren wollte, aber der Onkel hieb auf ihren Kopf und ihre Brust ein. Die Kinder ergriffen schreiend die Flucht. Der Onkel verfolgte sie. Eine Schwester wollte in den Flur fliehen, wurde vom Onkel jedoch bei den Haaren gepackt und zu Boden gerungen. Die andere schaffte es in den Flur. Der Onkel rannte ihr nach. Roshi hörte, wie er die Schlafzimmertür eintrat. Schreie ertönten, dann trat Stille ein.
»Also versuchte Roshi, mit ihrem kleinen Bruder zu fliehen. Sie rannten aus dem Haus, aber das Hoftor war versperrt. Das hatte natürlich der Onkel getan.«
In ihrer Panik und Verzweiflung liefen sie auf den Hinterhof, ohne daran zu denken, dass er von einer hohen und torlosen Mauer umgeben war. Als der Onkel aus dem Haus stürmte, musste Roshi mitansehen, wie sich ihr kleiner, fünfjähriger Bruder in den Tandoor stürzte, in dem ihre Mutter kurz zuvor Brot gebacken hatte. Roshi hörte, wie er in den Flammen schrie, dann stolperte sie und stürzte. Sie rollte sich auf den Rücken, sah noch blauen Himmel und die auf sie hinabsausende Axt. Dann nichts mehr.
Amra verstummt. Im Haus erklingt eine Live-Version von Leonard Cohens Who By Fire .
Idris sucht vergeblich nach Worten. Es hat ihm die Sprache verschlagen. Wäre es eine Tat der Taliban, Al-Qaidas oder eines größenwahnsinnigen Mudschaheddin-Anführers gewesen, hätte er vielleicht ohnmächtigen Zorn an den Tag gelegt. Aber diese Morde können weder Hekmatyar noch Mullah Omar, weder Bin Laden noch Bush und dessen Krieg gegen den Terror angelastet werden. Nein, dieses Blutbad entsprang gewöhnlicher, banaler Gier und ist deshalb umso schrecklicher und deprimierender. Idris denkt an das Wort »sinnlos«, verdrängt es aber gleich wieder. Das sagen die Leute immer: Sinnlose Gewalt, sinnloses Morden . Als ob Morden je sinnvoll sein könnte.
Er denkt an das Mädchen, Roshi, die sich im Krankenhaus gegen die Wand kauert, die Zehen verkrampft, ihre Miene die eines Kleinkindes. Ihr rasierter Kopf mit dem Riss, aus dem Gehirnflüssigkeit suppt, sich zu einer faustgroßen, an den Haarknoten eines Sikhs erinnernden Kugel geformt hat.
»Und all das hat sie dir erzählt?«, fragt er schließlich.
Amra nickt schwer. »Sie erinnert sich sehr gut. An jedes Detail. Sie kann es in allen Einzelheiten schildern. Ich wünschte, sie würde vergessen, weil sie schlecht träumt.«
»Was ist mit ihrem Bruder geschehen?«
»Zu schwere Verbrennungen.«
»Und der Onkel?«
Amra zuckt mit den Schultern.
»Nicht
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