Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
Vom Netzwerk:
Patienten schauen muss, setzt sich Idris neben Roshi auf das Bett und sieht mit ihr zusammen den Film. Mitten darin fällt der Strom aus. Roshi beginnt zu weinen, und der auf einem Stuhl sitzende Onkel beugt sich zu ihr, packt grob ihre Hand. Er flüstert einige barsche Worte auf Paschto, einer Sprache, die Idris nicht beherrscht. Roshi zuckt zusammen und will sich losreißen. Idris betrachtet ihre kleine Hand, die dem kräftigen Griff ihres Onkels nicht entkommen kann.
    Idris zieht seinen Mantel an. »Ich komme morgen wieder, Roshi. Dann können wir einen anderen Film sehen, wenn du willst. Ist dir das recht?«
    Roshi kauert sich unter der Decke zusammen. Idris betrachtet den Onkel und fragt sich, was Timur mit dem Mann anstellen würde, denn im Gegensatz zu Idris kann Timur nie der ersten Gefühlsaufwallung widerstehen. Lass mich zehn Minuten mit ihm allein , würde er sagen.
    Der Onkel folgt ihm nach draußen. Auf der Treppe sagt er zu Idris’ Verblüffung: »Ich bin hier das wahre Opfer, Sahib.« Die Miene von Idris ist ihm offenbar nicht entgangen, denn er berichtigt sich und fügt hinzu: »Sie ist natürlich das Opfer. Ich meine nur, dass ich auch ein Opfer bin. Sie begreifen das, denn Sie sind Afghane. Aber diese Fremden, die können das nicht begreifen.«
    »Ich muss los«, sagt Idris.
    »Ich bin ein mazdoor , ein einfacher Arbeiter. Ich verdiene einen Dollar am Tag, wenn ich Glück habe, zwei, Sahib. Und ich habe schon fünf eigene Kinder. Eines ist blind. Und nun das.« Er seufzt. »Möge Gott mir verzeihen, aber ich denke manchmal bei mir, Allah hätte Roshi nicht … nun, Sie verstehen schon. Das wäre vielleicht besser gewesen. Denn ich frage Sie, Sahib: Welcher junge Mann wird sie jetzt noch heiraten? Sie wird nie einen Mann finden. Und wer wird dann für sie sorgen? Ich werde es tun müssen. Für immer.«
    Idris weiß, dass er in die Ecke gedrängt worden ist. Er zückt seine Brieftasche.
    »Nur, was Sie erübrigen können, Sahib. Natürlich nicht für mich. Sondern für Roshi.«
    Idris drückt ihm ein paar Scheine in die Hand. Der Onkel blinzelt, sieht von dem Geld zu Idris auf. Er stößt hervor: »Zwei …«, aber dann schließt er den Mund, als würde er befürchten, Idris auf einen Irrtum aufmerksam zu machen.
    »Kaufen Sie ihr anständige Schuhe«, sagt Idris und geht die Treppe hinunter.
    »Allah segne Sie, Sahib«, ruft der Onkel ihm nach. »Sie sind ein guter Mensch. Sie sind ein gütiger Mensch.«
    * * *
    Idris kommt auch am nächsten und am übernächsten Tag. Seine Besuche werden bald zur Gewohnheit, und schließlich ist er täglich bei Roshi. Er kennt die Sanitäter nach einer Weile mit Namen, die im Erdgeschoss tätigen Pfleger, den Hausmeister und die unterernährt und müde wirkenden Wachen am Krankenhaustor. Er versucht, seine Besuche möglichst geheim zu halten. Wenn er zu Hause anruft, erzählt er weder von Roshi noch von Timur, erklärt nicht, warum er nicht mit nach Paghman fährt, wo sie einen Termin mit einem Beamten des Innenministeriums vereinbart haben. Timur kommt ihm trotzdem auf die Schliche.
    »Schön für dich«, sagt er. »Das ist eine gute Tat.« Und er fügt nach einer Pause hinzu: »Aber pass auf.«
    »Soll ich meine Besuche einstellen?«
    »Wir reisen in einer Woche ab, Bruder. Sie darf dir nicht zu sehr ans Herz wachsen.«
    Idris nickt. Er fragt sich, ob Timur eifersüchtig auf seine Beziehung zu Roshi ist. Oder verärgert, weil Idris ihn einer einmaligen Gelegenheit beraubt hat, den Helden zu spielen: Timur, der unter dem Jubel der Menge wie in Zeitlupe aus dem Krankenhaus tritt, ein Kind in seinen Armen. Idris will um jeden Preis verhindern, dass Timur mit Roshi auf diese Weise Selbstdarstellung betreibt.
    Trotzdem hat Timur nicht unrecht. Sie fliegen in einer Woche nach Hause, und Roshi nennt ihn inzwischen Kaka Idris. Wenn er zu spät kommt, ist sie aufgewühlt und schlingt ihre Arme um ihn, und die Erleichterung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hat ihm erzählt, dass seine Besuche ihr größtes Glück sind. Wenn sie gemeinsam einen Film gucken, umklammert sie seine Hand mit beiden Händen. Wenn er nicht bei ihr ist, muss er oft an die hellen Härchen auf ihren Armen denken, ihre schmalen, braungrünen Augen, ihre hübschen Füße, die runden Wangen oder die Art, wie sie ihr Kinn auf die Hände stützt, während er ihr aus einem der Kinderbücher vorliest, die er im Buchladen bei der französischen Schule gekauft hat. Manchmal fragt er sich sogar, wie

Weitere Kostenlose Bücher