Traumsammler: Roman (German Edition)
Außerdem bist du hübsch, und das reicht vollkommen, je t’assure, ma chérie. Das ist sogar viel besser.
Ihrem Vater, fand Pari, sah sie auch nicht ähnlich. Er war ein großer Mann mit ernstem Gesicht, dünnen Lippen, spitzem Kinn und hoher Stirn gewesen. Pari hatte ein paar Fotos aus ihrer Kabuler Kindheit aufbewahrt. Ihr Vater war 1955 erkrankt – in dem Jahr war sie mit Maman nach Paris gezogen – und bald darauf gestorben. Pari betrachtete die Fotos ab und zu, vor allem eine Schwarzweiß-Aufnahme, die sie beide vor einem alten amerikanischen Auto zeigte. Ihr Vater lehnte am Kotflügel und hatte sie auf dem Arm, und sie lächelten beide. Sie erinnerte sich daran, neben ihm gesessen zu haben, während er die Seiten eines Sekretärs mit langschwänzigen Affen und Giraffen bemalt hatte. Sie hatte einen Affen anmalen dürfen, und er hatte dabei sanft ihre Hand mit dem Pinsel geführt.
Ihren Vater auf den Fotos anzuschauen weckte in Pari ein sonderbares Gefühl, eines, das sie schon seit ihrer frühen Kindheit kannte: Das Gefühl, dass in ihrem Leben irgendetwas oder irgendjemand von grundlegender Bedeutung fehlte. Manchmal war dieses Gefühl so vage wie eine über endlos weite Entfernungen und gewundene Pfade gesandte Nachricht, wie ein schwaches, verzerrtes Signal im Radio. Bei anderen Gelegenheiten war es so überwältigend stark, dass ihr Herz fast zersprang. Zum Beispiel vor ein oder zwei Jahren in der Provence, beim Anblick einer großen, vor einem Bauernhof stehenden Eiche. Ein anderes Mal hatte sie im Jardin des Tuileries eine junge Mutter gesehen, die ihren Sohn in einem kleinen, roten Bollerwagen gezogen hatte. Pari verstand nicht, was in ihr vorging. Sie hatte einmal eine Geschichte über einen Türken gelesen, der an einer schweren Depression erkrankt war, nachdem sein Zwillingsbruder, den er nie kennengelernt hatte, während einer Kanu-Tour auf dem Amazonas an einem Herzinfarkt gestorben war. Dies kam ihrem Gefühl so nahe wie sonst nichts.
Sie hatte einmal mit Maman darüber gesprochen.
Ach, mon amour, das ist nicht weiter rätselhaft. Du vermisst deinen Vater , hatte sie gesagt. Er ist aus deinem Leben verschwunden. Da ist es nur natürlich, dass du so empfindest. Das ist bestimmt der Grund. Komm. Gib deiner Maman einen Kuss.
Die Antwort ihrer Mutter war absolut einleuchtend, zugleich aber unbefriedigend gewesen. Ja, wenn ihr Vater noch lebte, wenn er bei ihr wäre, dachte Pari, hätte sie vielleicht nicht dieses Gefühl, dass ihr etwas fehlte. Andererseits kannte sie dieses Gefühl schon als Kleinkind, und damals hatte sie noch mit beiden Eltern in dem großen Haus in Kabul gelebt.
Sie hatten gerade aufgegessen, da verschwand ihre Mutter kurz auf Toilette, und Pari war eine Weile mit Julien allein. Sie sprachen über einen Film, den Pari letzte Woche gesehen hatte, mit Jeanne Moreau in der Rolle einer Spielerin, plauderten über Musik und die Uni. Wenn Pari erzählte, stützte Julien die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu ihr hin, hörte aufmerksam zu, sah sie unverwandt an. Das ist nur Show, dachte Pari, eine für Frauen einstudierte Pose, die er aus einer Laune heraus annimmt, weil er mit mir spielen und sich amüsieren will. Trotzdem spürte sie, wie ihr Herz bei seinem konzentrierten Blick schneller schlug und ihr Magen sich zusammenzog. Sie ertappte sich dabei, in einem blasierten, geradezu lächerlichen Tonfall zu sprechen. Sie wusste, dass sie so normalerweise nicht redete, konnte aber nichts dagegen tun.
Er erzählte ihr, dass er kurz verheiratet gewesen sei.
»Tatsächlich?«
»Vor ein paar Jahren. Damals war ich dreißig und lebte in Lyon.«
Er hatte eine ältere Frau geheiratet. Aber es hatte nicht lange gehalten, weil sie sehr besitzergreifend war. Ihrer Maman gegenüber hatte Julien nichts davon erwähnt. »Im Grunde war es eine rein körperliche Beziehung«, sagte er. » C’était purement sexuel . Sie wollte mich besitzen.« Er sah Pari an, während er dies erzählte, und lächelte subversiv, wusste wohl, dass er indiskret war, und wollte ihre Reaktion testen. Pari zündete sich eine Zigarette an und gab sich so cool, als sei sie Brigitte Bardot, tat so, als würde sie dergleichen ständig von Männern hören, aber innerlich zitterte sie. Sie wusste, dass soeben ein kleiner Verrat begangen worden war. Etwas, das weder ganz zulässig noch ganz harmlos und sehr aufregend war. Als ihre Maman frisch gekämmt und mit nachgezogenen Lippen an den Tisch zurückkam, fand
Weitere Kostenlose Bücher