Traumsammler: Roman (German Edition)
es sogar noch länger.
» Ah, merde! «, sagt ihre Maman jetzt.
Sie setzt sich im Bett auf, immer noch im Krankenhaushemd. Dr. Delaunay hat Pari die Entlassungspapiere gegeben, und die Krankenschwester löst die Kanüle aus dem Arm ihrer Mutter.
»Was denn?«
»Mir ist nur eingefallen, dass ich in ein paar Tagen ein Interview geben soll.«
»Ein Interview?«
»Für eine Lyrikzeitschrift.«
»Ist ja toll, Maman.«
»Sie wollen ein Foto von mir drucken.« Sie deutet auf ihre genähte Stirn.
»Du kannst die Stiche sicher auf elegante Art verbergen«, sagt Pari.
Ihre Maman wendet seufzend den Blick ab. Als die Krankenschwester die Nadel herauszieht, jault sie leise auf und herrscht die Frau unverdientermaßen an.
* * *
Auszug aus »Afghanischer Singvogel«,
ein Interview mit Nila Wahdati. Von Etienne Boustouler.
Parallaxe Nr. 84 / Winter 1974 , S. 36
Ich schaue mich noch einmal in der Wohnung um, und mein Blick bleibt an einem gerahmten, im Bücherregal stehenden Foto hängen. Es zeigt ein kleines Mädchen, das auf einem von wilden Sträuchern bestandenen Feld hockt und in tiefer Versunkenheit Beeren pflückt. Sie trägt einen bis oben zugeknöpften Mantel, der sich leuchtend gelb vom bewölkten, dunkelgrauen Himmel abhebt. Im Hintergrund sieht man ein aus Stein erbautes Bauernhaus mit geschlossenen Fensterläden und beschädigten Dachziegeln. Ich erkundige mich nach dem Foto.
NW
Das ist meine Tochter Pari. Wie die Stadt, aber ohne s. Der Name bedeutet »Fee«. Das Bild ist um 1957 aufgenommen worden. Damals waren wir zusammen in der Normandie. Sie war ungefähr acht.
EB
Wohnt sie in Paris?
NW
Sie studiert Mathematik an der Sorbonne.
EB
Sie sind sicher stolz auf Ihre Tochter.
Sie zuckt lächelnd mit den Schultern.
EB
Wenn ich bedenke, dass Sie sich den schönen Künsten gewidmet haben, finde ich das Studienfach erstaunlich.
NW
Ich weiß nicht, woher sie das hat. Alle diese Formeln und Theorien. Sie sind ihr offenbar kein Rätsel. Ich selbst kann kaum multiplizieren.
EB
Ist es vielleicht ihre Art zu rebellieren? Sie wissen sicher einiges über die Kunst des Rebellierens.
NW
Ja, aber ich habe auf anständige Art rebelliert. Ich habe getrunken, geraucht und mir Liebhaber genommen. Glauben Sie, man könnte mit Mathematik rebellieren?
Sie lacht.
NW
Außerdem hätte sie keinen Anlass dazu. Ich habe ihr jede erdenkliche Freiheit gelassen. Meiner Tochter mangelt es an nichts. Sie hat alles. Sie lebt mit jemandem zusammen. Er ist ein ganzes Stück älter als sie. Mehr als charmant, sehr belesen, unterhaltsam. Natürlich ein ziemlicher Narzisst. Ein Ego, so groß wie Polen.
EB
Sie sind gegen diese Beziehung.
NW
Ob ich dagegen oder dafür bin, spielt keine Rolle. Wir sind hier in Frankreich, Monsieur Boustouler, nicht Afghanistan. Hier sind die jungen Leute nicht auf Gedeih und Verderb auf die Zustimmung ihrer Eltern angewiesen.
EB
Ihre Tochter hat also keinen Bezug zu Afghanistan?
NW
Sie hat das Land mit sechs verlassen. Sie hat kaum Erinnerungen an ihr dortiges Leben.
EB
Im Gegensatz zu Ihnen, nehme ich an.
Ich bitte sie, mir von ihrer Kindheit zu erzählen.
Sie entschuldigt sich und geht kurz aus dem Raum. Als sie zurückkehrt, reicht sie mir eine alte, zerknitterte Schwarzweißaufnahme: Ein gedrungener, streng wirkender Mann mit Brille und glänzendem, makellos gescheiteltem Haar. Er sitzt an einem Tisch und liest ein Buch. Er trägt einen Anzug mit spitzen Aufschlägen, eine zweireihige Weste, ein hochgeschlossenes, weißes Hemd und eine Fliege.
NW
Das ist mein Vater im Jahr 1929. Meinem Geburtsjahr.
EB
Er macht einen sehr ehrwürdigen Eindruck.
NW
Er gehörte zur Kabuler Paschtunen-Aristokratie. Hochgebildet, untadelige Manieren, sehr gesellig. Und ein großer Erzähler. Jedenfalls in der Öffentlichkeit.
EB
Und privat?
NW
Was meinen Sie, Monsieur Boustouler?
Ich sehe mir das Foto genauer an.
EB
Privat war er eher reserviert, würde ich sagen. Ernst. Undurchschaubar. Unnachgiebig.
NW
Ich muss darauf bestehen, dass Sie ein Glas mit mir trinken. Ich trinke nicht gern allein. Ich verabscheue es sogar.
Sie schenkt mir ein Glas Chardonnay ein. Aus reiner Höflichkeit nippe ich daran.
NW
Mein Vater hatte kalte Hände. Egal, wie das Wetter war. Seine Hände waren immer kalt. Und er trug bei jedem Wetter einen Anzug. Maßgeschneidert, tadellose Bügelfalten. Außerdem einen Fedora und spitze, zweifarbige Schuhe. Er sah nicht schlecht aus, wirkte aber immer etwas ernst. Und – das habe
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