Traumsammler: Roman (German Edition)
ich erst viel später begriffen – er gab sich auf eine etwas lächerliche, gekünstelte Art europäisch, bis hin zum wöchentlichen Bowling, zum Polo und zu seiner von ihm vergötterten französischen Frau. All dies zum großen Wohlgefallen des jungen, fortschrittlichen Königs.
Sie streicht über einen Fingernagel und schweigt eine Weile. Ich drehe währenddessen die Kassette im Aufnahmegerät um.
NW
Mein Vater hatte sein eigenes Schlafzimmer, und meine Mutter schlief bei mir im Zimmer. Er war fast jeden Tag außer Haus, speiste mit Ministern und Beratern des Königs zu Mittag. Oder er ritt, spielte Polo oder jagte. Er jagte leidenschaftlich gern.
EB
Sie haben ihn also kaum zu Gesicht bekommen. Er war als Vater abwesend.
NW
Nicht ganz. Er bestand darauf, alle paar Tage etwas Zeit mit mir zu verbringen. Dann kam er in mein Zimmer und setzte sich auf das Bett, ein Zeichen dafür, dass ich mich auf seinen Schoß setzen sollte. Er ließ mich eine Weile auf seinen Knien reiten, meist schweigend, bis er schließlich sagte: Und? Was machen wir jetzt, Nila? Ich durfte manchmal das Einstecktuch aus seiner Brusttasche ziehen. Ich sollte es neu falten, aber ich habe es meist zerknüllt und dann zurück in seine Tasche gestopft, und er setzte eine gespielt überraschte Miene auf, die ich sehr komisch fand, und wir spielten dieses Spiel, bis er genug davon hatte, was immer sehr rasch der Fall war, und dann strich er mit seinen kalten Händen über mein Haar und sagte: Papa muss jetzt los, mein Kitz. Ab mit dir.
Sie bringt das Foto zurück ins Nebenzimmer. Dann holt sie eine neue Schachtel Zigaretten aus einer Schublade und zündet sich eine an.
NW
Das war sein Kosename für mich. Ich fand ihn toll. Ich sprang immer im Garten herum, unser Garten war sehr groß, und rief: Ich bin Papas Kitz! Ich bin Papas Kitz! Ich habe erst später begriffen, wie unheimlich dieser Kosename im Grunde war.
EB
Wie meinen Sie das?
Sie lächelt.
NW
Mein Vater hat Rehe gejagt, Monsieur Boustouler.
* * *
Sie hätten die paar Straßen bis zur Wohnung zu Fuß gehen können, aber es regnet immer heftiger. Ihre Maman, in Paris Regenmantel gehüllt, kauert sich hinten im Taxi zusammen, starrt stumm aus dem Fenster, und Pari hat plötzlich den Eindruck, als wäre ihre Maman viel älter als vierundvierzig, alt, zerbrechlich und hager.
Pari ist eine ganze Weile nicht mehr in der Wohnung ihrer Maman gewesen. Nach dem Aufschließen stellt sie fest, dass der Küchentresen von dreckigen Weingläsern, aufgerissenen Chipstüten und ungekochten Nudeln übersät ist, von Tellern, auf denen nicht mehr zu identifizierendes Essen förmlich versteinert ist. Eine Papiertüte, die von leeren Weinflaschen überquillt, steht auf dem Tisch, gefährlich nahe an der Kante. Zeitungen liegen auf dem Fußboden, eine davon getränkt mit dem Blut des Sturzes vom Vortag, darauf eine einsame rosa Socke. Der Zustand der Wohnung macht Pari Angst. Und sie hat Schuldgefühle. Was, wie sie ihre Maman kennt, vielleicht beabsichtigt ist. Gleich darauf hasst Pari sich für diesen Gedanken. Julien würde so denken. Sie will, dass du dich mies fühlst. Das hatte er während des letzten Jahres mehrmals zu ihr gesagt. Sie will, dass du dich mies fühlst. Als er dies zum ersten Mal sagte, fühlte Pari sich erleichtert und verstanden. Sie war dankbar, weil er etwas aussprach, das sie nicht in Worte fassen konnte oder wollte. Sie glaubte, einen Verbündeten gefunden zu haben. Inzwischen hat sie jedoch Zweifel daran. Denn sie hört aus seinen Worten eine Spur Bosheit heraus. Fehlende Güte. Und das beunruhigt sie.
Der Fußboden im Schlafzimmer ist von Kleidern, Platten, Büchern und Zeitungen bedeckt. Ein halbvolles Glas Wasser, dessen Inhalt von den darin schwimmenden Zigarettenstummeln gelb verfärbt ist, steht auf der Fensterbank. Pari fegt die Bücher und alten Zeitschriften vom Bett und hilft ihrer Maman beim Zudecken.
Ihre Maman blickt zu ihr auf, eine Hand auf die verbundene Stirn gelegt: Die Pose einer Stummfilmschauspielerin, die gleich in Ohnmacht fallen wird.
»Kommst du klar, Maman?«
»Ich glaube nicht«, antwortet sie. Das klingt nicht wie ein Wunsch nach Aufmerksamkeit, denn ihre Maman sagt es tonlos und gelangweilt. Müde, ernst, endgültig.
»Du machst mir Angst, Maman.«
»Gehst du jetzt?«
»Möchtest du, dass ich bleibe?«
»Ja.«
»Dann bleibe ich.«
»Mach das Licht aus.«
»Maman?«
»Ja?«
»Nimmst du deine Tabletten nicht mehr? Ich glaube, du
Weitere Kostenlose Bücher