Traumsammler: Roman (German Edition)
sagen.«
»Das weiß ich. Du bist ja grade dabei. So etwas kann man nicht verheimlichen.«
»Bist du sauer?«
»Spielt das eine Rolle?«
Pari stand am Fenster. Sie fuhr mit einem Finger zerstreut über den blauen Rand von Juliens altem Aschenbecher. Sie schloss die Augen. »Nein, Maman. Das spielt keine Rolle.«
»Tja. Ich würde gern sagen, dass es nicht schmerzt.«
»Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Das ist die große Frage.«
»Warum sollte ich dich verletzen wollen, Maman?«
Ihre Maman lachte. Hohl und hässlich.
»Wenn ich dich so anschaue, erkenne ich mich in dir nicht wieder. Aber das versteht sich wohl von selbst. Das ist keine Überraschung, wenn man alles bedenkt. Ich weiß nicht, was für ein Mensch du bist, Pari. Ich weiß nicht, wer du bist oder wozu du aufgrund deiner Herkunft imstande bist. Du bist mir fremd.«
»Wie meinst du das?«, fragte Pari.
Doch ihre Mutter hatte schon aufgelegt.
* * *
Auszug aus »Afghanischer Singvogel«, ein Interview mit Nila Wahdati. Von Etienne Boustouler. Parallaxe Nr. 84 / Winter 1974 , S. 38
EB
Haben Sie hier in Frankreich Französisch gelernt?
NW
Meine Mutter hat es mir in Kabul beigebracht. Sie hat nur Französisch mit mir gesprochen, als ich klein war. Sie hat mich täglich unterrichtet. Es war schlimm für mich, als sie Kabul verließ.
EB
Sie ist nach Frankreich zurückgekehrt?
NW
Ja. Meine Eltern ließen sich 1939 scheiden. Ich war damals zehn, und weil ich das einzige Kind war, verhinderte mein Vater, dass meine Mutter mich mitnahm. Ich blieb also in Kabul, und sie reiste nach Paris, um dort bei ihrer Schwester Agnes zu leben. Mein Vater versuchte, diesen Verlust durch einen Privatlehrer, Reitstunden und Malunterricht wettzumachen. Aber eine Mutter ist nun mal unersetzlich.
EB
Wie ist es ihr ergangen?
NW
Oh, sie ist gestorben. Während Paris von den Nazis besetzt war. Sie haben meine Mutter nicht ermordet. Aber Agnes. Meine Mutter starb an einer Lungenentzündung. Mein Vater hat es mir erst erzählt, nachdem die Alliierten Paris befreit hatten, aber ich wusste es längst. Ich hatte es geahnt.
EB
Das muss hart für Sie gewesen sein.
NW
Es war niederschmetternd. Ich habe meine Mutter geliebt. Ich hatte mir ausgemalt, nach dem Krieg bei ihr in Frankreich zu leben.
EB
Ich entnehme dem, dass Sie sich mit Ihrem Vater nicht so gut verstanden haben?
NW
Es gab immer wieder Spannungen. Wir stritten oft, und das kannte er nicht. Er war keine Widerrede gewöhnt, schon gar nicht von einer Frau. Wir stritten uns darüber, wie ich mich anzog, darüber, was ich sagte und zu wem ich es sagte, wohin ich ausging. Ich war abenteuerlustig und kühn geworden, er noch asketischer und zugeknöpfter. Wir waren von Natur aus gegensätzlich.
Sie lacht leise und strafft den Knoten ihres Tuchs am Hinterkopf.
NW
Außerdem verliebte ich mich ständig. Fast manisch und zum Entsetzen meines Vaters in die falschen Männer: Einmal in einen Hausmeistersohn, dann in einen kleinen Beamten, der meinen Vater geschäftlich beriet. Alles verrückte, von Anfang an zum Scheitern verurteilte Geschichten. Ich stahl mich zu heimlichen Rendezvous, aber meinem Vater wurde natürlich zugetragen, dass man mich irgendwo gesehen hatte. Es hieß, ich würde mich herumtreiben. Sie nannten mich immer eine Herumtreiberin. Oder sagten, ich würde mich zur Schau stellen. Mein Vater ließ mich von einem Suchtrupp holen. Dann sperrte er mich ein. Tagelang. Stand vor der Tür und sagte: Du demütigst mich. Warum demütigst du mich so? Was soll ich tun? Manchmal beantwortete er diese Frage mit dem Gürtel oder mit der geballten Faust. Dann jagte er mich durch das Zimmer. Er glaubte wohl, mich mit Gewalt gefügig machen zu können. Damals schrieb ich viele lange, schockierende Gedichte, die von pubertärer Leidenschaft nur so troffen. Ich fürchte, sie waren nicht nur melodramatisch, sondern auch theatralisch: Vögel im Käfig, in Ketten gelegte Liebende und dergleichen. Ich bin nicht stolz darauf.
Da sie nicht zu falscher Bescheidenheit zu neigen scheint, ist ihr Urteil über diese frühen Gedichte wohl ehrlich gemeint, obwohl es geradezu harsch klingt. Denn ihre Texte aus dieser Zeit sind sogar in der Übertragung atemberaubend, vor allem, wenn man bedenkt, wie jung sie damals war. Sie sind bewegend, reich an Bildern, Emotionen, Erkenntnissen und erzählerischer Anmut. Sie erzählen auf wunderbare Art von Einsamkeit und Trauer, dokumentieren Enttäuschungen und die Höhen und Tiefen
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