Traumsammler: Roman (German Edition)
nimmst sie nicht mehr, und das beunruhigt mich.«
»Fang nicht damit an. Mach das Licht aus.«
Pari gehorcht. Sie setzt sich auf die Bettkante und schaut ihrer Maman beim Einschlafen zu. Danach geht sie in die Küche, um mit dem Aufräumen zu beginnen. Sie findet ein Paar Handschuhe und beginnt, die nach sauer gewordener Milch stinkenden Gläser, verkrusteten Müslischüsseln und Teller mit vergammelten Essensresten abzuwaschen. Ihr fällt ein, wie sie in Juliens Wohnung abwusch, morgens, nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Julien hatte Omeletts gemacht. Und sie hatte es genossen, diese einfache Arbeit zu erledigen, die Teller in seiner Spüle abzuwaschen, während er eine Platte von Jane Birkin auflegte.
Im Jahr zuvor, 1973, war sie ihm bei einer Demo vor der kanadischen Botschaft, einem Studentenprotest gegen Seehundjagd, nach fast zehn Jahren wiederbegegnet. Pari wollte nicht teilnehmen, weil sie noch eine Seminararbeit über meromorphe Funktionen zu Ende schreiben musste, aber Colette hatte darauf bestanden. Sie teilten sich eine Wohnung, aber das Zusammenwohnen wurde für beide immer nerviger. Colette rauchte Gras. Sie trug alberne Stirnbänder und weite, magentafarbene, mit Vögeln und Gänseblümchen bestickte Tuniken. Sie brachte langhaarige, verwahrloste junge Männer mit nach Hause, die Paris Essen verputzten und auf der Gitarre klampften, dass es in den Ohren weh tat. Colette war ständig auf der Straße, um gegen Rassismus, Tierquälerei, Sklaverei und französische Atombombentests im Pazifik zu demonstrieren. Die Wohnung glich einem Bienenstock, Leute, die Pari nicht kannte, schwirrten ein und aus, und wenn sie mit Colette allein war, spürte sie neuerdings eine Spannung, eine gewisse Überheblichkeit auf Seiten ihrer Freundin, eine latente Missbilligung.
»Sie lügen«, sagte Colette voller Eifer. »Angeblich sind ihre Methoden human. Human! Hast du gesehen, wie sie die Tiere erschlagen? Diese Pickel? Die Tiere sind meist noch gar nicht tot, wenn diese Mistkerle die Haken in ihr Fleisch schlagen und sie zu ihren Booten schleifen. Sie häuten die Tiere bei lebendigem Leib, Pari! Lebendig!« Colette steigerte sich so hinein, dass Pari sich am liebsten entschuldigt hätte. Sie wusste zwar nicht genau, wofür, aber in letzter Zeit schnürte es ihr die Luft ab, mit Colette zusammen zu sein, sich ständig deren Tiraden und Vorwürfe anhören zu müssen.
Es kamen nur dreißig Demonstranten. Es hieß, dass Brigitte Bardot erscheinen würde, aber das erwies sich als Gerücht. Colette war enttäuscht. Sie diskutierte wütend mit einem hageren, blassen, jungen Brillenträger namens Eric, der offenbar für die Organisation der Demo verantwortlich war. Der arme Eric. Pari hatte Mitleid mit ihm. Colette, die immer noch schäumte, übernahm die Führung. Pari lief weiter hinten neben einem flachbrüstigen Mädchen, das die Parolen mit nervöser Euphorie brüllte. Pari sah zu Boden und versuchte, nicht aufzufallen.
An einer Straßenecke tippte ihr ein Mann auf die Schulter.
»Du siehst aus, als würdest du sehnsüchtig darauf warten, errettet zu werden.«
Er trug ein Tweedsakko über dem Pullover, Jeans und einen Wollschal. Seine Haare waren länger, und er war gealtert, wenn auch elegant und auf eine Art, die gleichaltrige Frauen als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfinden mussten. Er hatte ein paar Krähenfüße mehr, war an den Schläfen etwas grauer, und sein Gesicht zeugte von leiser Müdigkeit, aber er war noch schlank und fit.
»Stimmt«, sagte sie.
Sie küssten einander auf die Wange, und als er fragte, ob sie Lust auf einen Kaffee habe, sagte sie ja.
»Deine Freundin sieht so aus, als würde sie gleich jemandem an die Gurgel gehen.«
Pari drehte sich um. Die neben Eric stehende Colette reckte immer noch brüllend die Faust, starrte dabei jedoch absurderweise Pari an. Pari unterdrückte ein Lachen – denn das hätte sie für immer entzweit. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und huschte davon.
Sie setzten sich in einem kleinen Café an einen Fenstertisch. Er bestellte je einen Kaffee und ein mille-feuille . Pari hörte ihn auf die freundliche, bestimmte Art mit dem Kellner reden, die sie von früher kannte, und sie hatte Schmetterlinge im Bauch, genau wie damals, wenn er kam, um ihre Maman abzuholen. Sie war sich plötzlich ihrer abgekauten Fingernägel bewusst, ihres ungeschminkten Gesichts, ihrer schlaffen Locken. Sie hätte sich nach dem Duschen fönen sollen,
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