Traumsammler: Roman (German Edition)
jugendlicher Liebe samt all ihren Verlockungen und Fallstricken. Sie vermitteln außerdem das Gefühl einer transzendenten Klaustrophobie, eines eingeengten Horizonts und eines Kampfes gegen die Tyrannei äußerer Umstände – diese meist in Gestalt einer namenlosen und bedrohlichen männlichen Figur. Eine recht unverhohlene Anspielung auf ihren Vater, wie ich vermute. Ich nehme mir vor, sie darauf anzusprechen.
EB
Sie lösen sich in diesen Gedichten von Rhythmus, Reimschema und Metrum der klassischen Farsi-Dichtung. Sie folgen dem freien Fluss der Phantasie. Sie überhöhen zufällige, profane Details. Das war durchaus bahnbrechend. Könnte man behaupten, dass man Sie, wären Sie in einem wohlhabenderen Land zur Welt gekommen – etwa im Iran –, heute als literarische Pionierin rühmen würde?
Sie lächelt trocken.
NW
Das wäre schon etwas.
EB
Ich bin immer noch verblüfft über das, was Sie gerade gesagt haben: Dass Sie nicht stolz auf diese Gedichte sind. Sind Sie mit Ihrem Schreiben je zufrieden?
NW
Eine schwierige Frage. Ich würde das vielleicht bejahen, nur müsste ich dazu Gedicht und schöpferischen Vorgang voneinander trennen.
EB
Zweck und Mittel auseinanderdividieren, meinen Sie.
NW
Ich halte den schöpferischen Vorgang zwangsläufig für eine Art von Diebstahl. Wenn Sie erstklassige Literatur durchsehen, Monsieur Boustouler, werden Sie dort auf alle möglichen Ehrlosigkeiten stoßen. Ein Schöpfungsakt dieser Art bedeutet, dass man die Leben anderer Menschen plündert und diese, ohne dass sie es wollten oder wüssten, benutzt. Man stiehlt ihre Sehnsüchte, beutet ihre Schwächen aus, raubt ihre Träume, ihr Leid. Man vergreift sich an fremdem Eigentum. Und das ganz bewusst.
EB
Und Sie verstanden sich sehr gut darauf.
NW
Ich habe das nicht aufgrund einer hehren Auffassung von Literatur getan, sondern weil ich keine andere Wahl hatte. Der Zwang war übermächtig. Hätte ich ihm nicht nachgegeben, wäre ich verrückt geworden. Sie fragen mich, ob ich stolz bin. Es fällt mir schwer, mit etwas zu prahlen, das mit Hilfe moralisch fragwürdiger Mittel entstanden ist. Ich überlasse es anderen, meine Gedichte zu feiern oder zu verreißen.
Sie leert ihr Glas und schenkt sich den restlichen Wein ein.
NW
Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass mich in Kabul niemand für meine Gedichte gefeiert hat. In Kabul sah man mich bestenfalls als Pionierin des schlechten Geschmacks, der Zügellosigkeit und moralischen Verkommenheit. Das galt vor allem für meinen Vater. Er bezeichnete meine Gedichte als die Ergüsse einer Hure. Er benutzte genau dieses Wort. Er sagte, ich hätte den Namen seiner Familie für immer beschmutzt. Er sagte, ich hätte ihn verraten. Er fragte immer wieder, warum es mir so schwerfalle, ein ehrbares Leben zu führen.
EB
Wie haben Sie darauf reagiert?
NW
Ich sagte, dass mir seine Auffassung von Ehre egal sei. Ich sagte, dass ich keine Lust hätte, mir die Schlinge selbst um den Hals zu legen.
EB
Zu seinem noch größeren Missfallen, nehme ich an?
NW
Selbstverständlich.
Ich zögere damit, den nächsten Satz auszusprechen.
EB
Ich kann seinen Zorn durchaus verstehen.
Sie zieht eine Augenbraue hoch.
NW
Ach, ja?
EB
Er war ein Patriarch, und Sie haben alles in Frage gestellt, was ihm lieb und teuer war. Sie haben sowohl in Ihrem Leben als auch in Ihrem Schreiben verlangt, dass Frauen mehr Freiheiten erhalten, eigenmächtig über ihren Status bestimmen, ein selbstbestimmtes Leben führen sollen. Sie haben der Vormachtstellung der Männer getrotzt. Sie haben ausgesprochen, was nicht ausgesprochen werden durfte. Sie haben, könnte man sagen, eine kleine Ein-Frau-Revolution angezettelt.
NW
Und ich dachte immer, ich hätte einfach über Sex geschrieben.
EB
Aber das war Teil der Revolution, nicht wahr?
Ich blättere in meinen Notizen und erwähne die Titel einiger unverhüllt erotischer Gedichte – »Dornen«, »Wäre da nicht das Warten«, »Das Kopfkissen«. Ich gestehe, dass ich sie nicht für ihre stärksten halte, dass es ihnen meiner Ansicht nach an Mehrdeutigkeit und Nuanciertheit fehlt. Sie lesen sich, als wären sie nur geschrieben, um zu schockieren und zu empören. Die Gedichte wirken polemisch auf mich. Sie wütet darin gegen die afghanischen Geschlechterrollen.
NW
Ich war ja auch wütend. Ich war wütend, weil man meinte, mich vor Sex beschützen zu müssen. Vor meinem eigenen Körper beschützen zu müssen. Weil ich eine Frau war, und weil Frauen emotional,
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