Traumsammler: Roman (German Edition)
Er erlag einem Schlaganfall, als unsere Tochter sechs Jahre alt war. Ich hätte damals in Kabul bleiben können. Ich besaß sein Haus und sein Vermögen. Wir hatten einen Gärtner und den eben erwähnten Chauffeur. Es wäre ein bequemes Leben gewesen. Trotzdem habe ich die Koffer gepackt und bin mit Pari nach Frankreich gegangen.
EB
Wegen Ihrer Tochter, wie Sie angedeutet haben.
NW
Alles, was ich getan habe, Monsieur Boustouler, habe ich für meine Tochter getan. Nicht, dass sie das versteht oder auch nur halbwegs zu würdigen weiß. Meine Tochter kann unglaublich gedankenlos sein. Wenn sie nur wüsste. Ohne mich hätte sie ein ganz anderes Leben führen müssen.
EB
Sind Sie enttäuscht von Ihrer Tochter?
NW
Ich glaube inzwischen, dass sie eine Strafe für mich ist, Monsieur Boustouler.
* * *
Im Jahr 1975 kommt Pari eines Tages nach Hause in ihre neue Wohnung und findet ein Päckchen auf ihrem Bett vor. Vor einem Jahr hat sie ihre Mutter aus der Notaufnahme abgeholt, vor neun Monaten hat sie sich von Julien getrennt. Pari teilt sich die Wohnung mit einer angehenden Krankenschwester namens Zahia. Sie ist eine junge Algerierin mit braunen Locken und grünen Augen, ein handfestes, fröhliches, unkompliziertes Mädchen. Das Zusammenwohnen funktioniert reibungslos. Zahia hat sich allerdings kürzlich mit ihrem Freund Sami verlobt und wird am Ende des Semesters bei ihm einziehen.
Ein zusammengefalteter Zettel liegt neben dem Päckchen. Das kam für Dich. Ich bin über Nacht bei Sami. Bis morgen. Je t’embrasse. Zahia.
Pari reißt das Päckchen auf. Es enthält eine Zeitschrift, an der ein Zettel hängt. Die elegante, fast feminine Schrift ist Pari vertraut. Dies wurde an Nila geschickt, danach an das alte Ehepaar, das in Colettes früherer Wohnung lebt, und von dort zu mir. Du solltest einen neuen Nachsendeantrag stellen. Lies dies – auf eigene Gefahr. Ich fürchte, weder du noch ich kommen gut darin weg. Julien.
Pari wirft die Zeitschrift auf das Bett und macht sich in der Küche einen Spinatsalat und etwas Couscous. Sie zieht den Pyjama an und isst vor dem kleinen, geborgten Schwarzweißfernseher. Die Bilder südvietnamesischer Flüchtlinge, die mit dem Flugzeug in Guam ankommen, nimmt sie nur halb wahr. Sie denkt an Colette, die gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam protestierte, Colette, die zur Gedenkfeier für ihre Maman einen Kranz aus Dahlien und Margeriten mitbrachte, Pari drückte und küsste und dann, auf dem Podium stehend, ein Gedicht von Maman auf wunderbare Art vortrug.
Julien war nicht erschienen. Er hatte sich telefonisch mit der lahmen Ausrede entschuldigt, dass er Gedenkfeiern bedrückend finde.
Wer nicht? , hatte Pari erwidert.
Ich bleibe besser weg.
Wie du willst , hatte Pari gesagt, aber bei sich gedacht: Du kannst wegbleiben, aber das spricht dich ebenso wenig frei, wie meine Anwesenheit mich freispricht. Wir waren zu rücksichtslos, zu gedankenlos. Mein Gott. Pari hatte in dem Wissen aufgelegt, dass ihre Affäre mit Julien ihrer Mutter den Rest gegeben hatte. Sie hatte in dem Wissen aufgelegt, dass sie lebenslang immer wieder unvermittelt von Schuldgefühlen und schrecklichen Gewissensbissen heimgesucht, ja niedergeschmettert werden würde. Sie würde sich für immer damit herumplagen müssen. Es würde ihr ständig im Nacken sitzen.
Nach dem Essen badet sie und geht dann ihre Notizen für eine bevorstehende Prüfung durch. Sie sitzt noch eine Weile vor dem Fernseher, wäscht das Geschirr ab und wischt die Küche. Aber nichts hilft. Sie kann sich nicht ablenken. Die Zeitschrift liegt auf dem Bett, zieht sie magisch an wie ein Ton auf niedriger Frequenz.
Danach zieht sie einen Regenmantel über den Pyjama und läuft Richtung Boulevard de la Chapelle, einige Straßen weiter südlich. Die Luft ist kühl, Regentropfen prasseln auf den Bürgersteig und gegen die Schaufenster, aber Pari fühlt sich zu Hause beengt. Sie ist aufgewühlt, braucht die Kälte, die feuchte Luft, den Freiraum.
Pari hat ihre Mutter früher oft mit Fragen bedrängt: Habe ich Cousinen in Kabul, Maman? Habe ich Onkel und Tanten? Und Großeltern, habe ich Oma und Opa? Warum besuchen sie uns nie? Darf ich ihnen schreiben? Fahren wir hin? Bitte, bitte!
Sie fragte meist nach ihrem Vater: Was war seine Lieblingsfarbe, Maman? War er ein guter Schwimmer? Konnte er gut Witze erzählen? Sie weiß noch, wie er sie durch ein Zimmer jagte, über den Teppich rollte, am Bauch und an den Füßen kitzelte. Sie erinnert
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