Traumsammler: Roman (German Edition)
gehorchte, obwohl sie spürte, dass diese Witze Spitzen in sich bargen, eine verhüllte Schelte waren, ihr durch die Blume sagten, dass ihre Maman sie für abgehoben, ihre Interessen für bizarr hielt. Bizarr. Pari fand es dreist, dass ausgerechnet eine Lyrikerin so dachte, aber sie verschwieg dies gegenüber ihrer Mutter.
Julien wollte wissen, worin der Reiz der Mathematik für sie bestand, und sie antwortete, sie finde sie beruhigend.
»›Herausfordernd‹ fände ich passender«, sagte er.
»Ja, das auch.«
Sie sagte, dass sie Trost aus der Beständigkeit, Klarheit und Eindeutigkeit mathematischer Wahrheiten schöpfe. In dem Bewusstsein, dass man die Lösung immer finde, egal wie abseitig sie auch sei. Die Lösung warte irgendwo, sei nur ein paar Formeln entfernt.
»Im Gegensatz zum wahren Leben«, sagte er. »Dort gibt es bestenfalls wirre Antworten, aber keine Lösungen.«
»Bin ich so durchschaubar?« Sie lachte und verbarg ihr Gesicht hinter der Serviette. »Ich klinge wie eine Spinnerin.«
»Ganz und gar nicht«, antwortete er. »Nicht die Spur.«
»Wie eine deiner Studentinnen. Ich erinnere dich bestimmt an deine Studenten.«
Er stellte weitere Fragen, anhand derer Pari bemerkte, dass er sich mit analytischer Zahlentheorie halbwegs auskannte und mit Gauss und Bernhard Riemann vertraut war. Sie plauderten, bis es zu dämmern begann. Sie tranken Kaffee, danach Bier und schließlich Wein. Und am Ende, als es nicht mehr hinauszuzögern war, beugte Julien sich ein klein wenig zu Pari vor und fragte höflich, fast pflichtschuldig: »Und wie geht es Nila?«
Pari blies die Wangen auf und atmete langsam aus.
Julien nickte wissend.
»Sie könnte ihre Buchhandlung verlieren«, sagte Pari.
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Der Umsatz wird von Jahr zu Jahr weniger. Kann sein, dass sie dichtmachen muss. Sie würde es nie zugeben, aber das wäre ein schwerer Schlag für sie. Ein sehr schwerer Schlag.«
»Schreibt sie noch Gedichte?«
»Schon seit einer Weile nicht mehr.«
Er wechselte bald das Thema. Pari war erleichtert. Sie wollte nicht von ihrer Maman, deren Trinkerei und der Mühe erzählen, die es kostete, sie zur Einnahme ihrer Tabletten zu überreden. Pari erinnerte sich an all die scheuen Blicke, die sie mit Julien getauscht hatte, während ihre Maman sich nebenan umgezogen hatte. Julien hatte sie angeschaut, und sie hatte nach Worten gesucht. Das konnte ihrer Maman nicht verborgen geblieben sein. War das der Grund dafür gewesen, dass sie sich von ihm getrennt hatte? Wenn ja, dann eher als eifersüchtige Liebhaberin denn als Mutter, die ihre Tochter beschützen wollte.
Julien fragte Pari einige Wochen später, ob sie bei ihm einziehen wolle. Er lebte in einer kleinen Wohnung im 7. Arrondissement auf der Rive Gauche. Pari sagte zu, zumal Colettes Feindseligkeit für immer dickere Luft in der Wohnung sorgte.
Pari erinnert sich noch gut an den ersten Sonntag in Juliens Wohnung. Sie schmiegten sich auf dem Sofa eng aneinander. Pari dämmerte vor sich hin, und Julien trank Tee, die langen Beine auf dem Couchtisch ausgestreckt. Er las einen Leitartikel in der Zeitung, und es lief eine Platte von Jacques Brel. Immer, wenn Pari den Kopf auf seiner Brust anders hinlegte, beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie auf Augenlid, Ohr oder Nase.
»Wir müssen es Maman sagen.«
Sie spürte, wie er erstarrte. Er faltete die Zeitung zusammen, setzte die Lesebrille ab und legte sie auf die Sofalehne.
»Wir dürfen es ihr nicht verheimlichen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er.
»Wahrscheinlich?«
»Du hast natürlich recht. Ruf sie an. Aber überleg dir genau, was du sagst. Bitte weder um ihre Erlaubnis noch um ihren Segen, denn du wirst weder das eine noch das andere von ihr bekommen. Stell sie vor vollendete Tatsachen. Sie muss begreifen, dass es nichts zu verhandeln gibt.«
»Du hast leicht reden.«
»Kann sein. Aber ich weiß, dass Nila eine rachsüchtige Frau ist. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber das hat sich bei unserer Trennung herausgestellt. Sie ist erstaunlich rachsüchtig. Ich kenne sie. Das wird nicht einfach für dich sein.«
Pari schloss seufzend die Augen. Bei dem Gedanken an die Unterhaltung zog sich ihr der Magen zusammen.
Julien strich mit dem Handrücken über ihre Wange. »Du brauchst ein dickes Fell.«
Am nächsten Tag rief Pari an. Ihre Maman wusste schon Bescheid.
»Wer hat es dir erzählt?«
»Colette.«
Na klar, dachte Pari. »Ich wollte es dir
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