Traumsammler: Roman (German Edition)
moralisch und intellektuell als unreif galten. Man unterstellte ihnen, aufgrund fehlender Selbstbeherrschung in körperlicher Hinsicht leicht verführbar zu sein. Man hielt sie für hypersexuelle Geschöpfe, die gebändigt werden mussten, damit sie nicht gleich mit dem nächsten Ahmad oder Mahmood ins Bett gingen.
EB
Aber – bitte verzeihen Sie – genau das haben Sie doch getan, oder?
NW
Nur als Protest gegen genau diese Haltung.
Sie hat ein herrliches Lachen, spitzbübisch, schelmisch und klug. Sie fragt mich, ob ich etwas essen will. Sie sagt, ihre Tochter habe ihren Kühlschrank kürzlich frisch bestückt, und macht dann ein köstliches Jambon-fumé-Sandwich. Aber nur eines für mich. Sie selbst begnügt sich damit, eine neue Flasche Wein zu entkorken und sich eine weitere Zigarette anzuzünden. Sie setzt sich wieder.
NW
Finden Sie nicht auch, dass wir um dieses Gesprächs willen gute Freunde bleiben sollten, Monsieur Boustouler?
Ich bejahe.
NW
Dann tun Sie mir bitte zwei Gefallen: Essen Sie Ihr Sandwich und hören Sie auf, mein Glas anzustarren.
Mein Impuls, sie später nach dem Trinken zu befragen, hat sich damit erledigt.
EB
Was geschah danach?
NW
Mit fast neunzehn Jahren erkrankte ich ernsthaft. Das war 1948. Mehr will ich dazu nicht sagen. Mein Vater reiste mit mir nach Delhi. Er blieb während der sechswöchigen Behandlung bei mir. Die Ärzte sagten, ich hätte sterben können. Vielleicht wäre das besser gewesen. Für eine junge Dichterin kann der Tod einen echten Karrieresprung bedeuten. Bei unserer Rückkehr war ich schwach und lebte zurückgezogen. Ich habe nicht mehr geschrieben. Ich aß kaum etwas und hatte wenig Interesse an Gesprächen oder Unterhaltung. Besuch lehnte ich ab. Ich wollte nur die Vorhänge zuziehen und den ganzen Tag schlafen. Und genau das tat ich. Irgendwann kam ich aus dem Bett und nahm die übliche Routine wieder auf – ich meine damit die grundlegenden Dinge, um die man sich kümmern muss, damit man nicht verwahrlost. Aber ich hatte das Gefühl, in Indien etwas verloren zu haben, das lebenswichtig für mich gewesen war.
EB
War Ihr Vater besorgt?
NW
Ganz im Gegenteil. Er war froh. Er glaubte, dass die Konfrontation mit der Sterblichkeit meiner Launenhaftigkeit und Unreife ein Ende gesetzt hätte. Er begriff nicht, dass ich mich verloren fühlte. Wenn man unter einer Lawine begraben wird, Monsieur Boustouler, weiß man anscheinend nicht, wo oben und wo unten ist. Man will sich befreien, gräbt aber immer tiefer und geht so dem sicheren Tod entgegen. Genau so fühlte ich mich damals – orientierungslos, verwirrt, ohne jede Richtung. Und in einer solchen Verfassung ist man verwundbar. Was vielleicht erklärt, warum ich im folgenden Jahr, 1949, einwilligte, als Suleiman Wahdati bei meinem Vater um meine Hand anhielt.
EB
Sie waren zwanzig.
NW
Er nicht.
Sie bietet an, mir noch ein weiteres Sandwich zu machen, was ich ablehne, und noch eine Tasse Kaffee aufzubrühen, was ich annehme. Während sie das Wasser aufsetzt, fragt sie, ob ich verheiratet sei. Ich verneine und füge hinzu, dass ich wohl auch nie heiraten werde. Sie schaut mich über die Schulter lange an und grinst.
NW
Ah. Normalerweise kann ich das immer mit Sicherheit sagen.
EB
Überraschung!
NW
Liegt vielleicht an der Gehirnerschütterung.
Sie deutet auf ihr Kopftuch.
NW
Das ist kein Mode-Statement. Ich bin vor einigen Tagen ausgerutscht und habe mir die Stirn aufgeschlagen. Ich hätte es trotzdem wissen müssen. Sie betreffend, meine ich. Es gibt nur wenige Männer, die Frauen so gut verstehen wie Sie und ihnen trotzdem aus dem Weg gehen.
Sie reicht mir den Kaffee, zündet sich eine Zigarette an und setzt sich.
NW
Ich habe eine Theorie über die Ehe, Monsieur Boustouler: Nach zwei Wochen weiß man fast immer, ob es klappt oder nicht. Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen sich jahrelang oder gar jahrzehntelang in einem Zustand gegenseitiger Verblendung und trügerischer Hoffnung aneinander ketten, obwohl sie schon nach zwei Wochen hätten wissen müssen, was los ist. Ich war viel früher im Bilde. Mein Mann war anständig, aber unnahbar, uninteressant und viel zu ernst. Außerdem war er in seinen Chauffeur verliebt.
EB
Oh. Das muss ein Schock für Sie gewesen sein.
NW
Tja, es hat die Sache interessant gemacht, wenn Sie so wollen.
Sie lächelt betrübt.
NW
Eigentlich tat er mir leid. So, wie er veranlagt war, hätte er sich keine schlechtere Zeit und keinen schlechteren Ort aussuchen können.
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