Traumschlange (German Edition)
Hitze macht mich fertig.“
„Sie haben die Urne also bekommen.“ Die Bemerkung war überflüssig. Wie eine überdimensionale Thermoskanne lag sie in Abbys Schoß.
Sie reichte ihm die Ausfuhrgenehmigung. Mitchard warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor das Schreiben zurückgab.
„Kennen Sie den Beamten, der unterzeichnet hat?“, fragte Abby.
„Nein. Der Name sagt mir nichts.“
Mitchard startete den Motor. „Es wird Zeit, dass wir meinem Freund einen Besuch abstatten.“
Sie verließen Port-au-Prince über die Rue du Quai . Als der Wagen die Docks passierte, konnte Abby verrostete Ozeanriesen sehen, die vor schwarzen, baufälligen Baracken lagen. Arbeiter zogen in einem Tross schwer beladene Karren hinter sich her.
Kurz darauf kamen sie am Flughafen der Stadt vorbei, aber dort herrschte Ruhe. Keine Maschine startete oder landete. Abby konnte kaum glauben, dass sie erst vor zwei Tagen in Haiti eingetroffen war. So vieles war inzwischen geschehen. Morgen würde sie die Karibikinsel verlassen und nie wiederkehren. Sie seufzte unhörbar. Wenn es nur schon soweit wäre. Abby sehnte sich nach der Ordnung und Beständigkeit ihres Heimatlandes. In Haiti herrschte das Chaos und wenn hier Gesetze regierten, dann waren es Gesetze, die sie nicht kannte. Für sie war die Insel eine Ausgeburt der Hölle, mit nichts auf dieser Welt vergleichbar.
Mitchard folgte der Küstenstrasse Richtung Nordwesten. Die Fahrt ging durch die lang gestreckten Zuckerrohrfelder der Ebene Cul de Sac zu den Abhängen der Chane de Matheux , bevor die Strasse sie wieder Richtung Meer führte. Links von ihnen tauchte die Insel Ille de la Gonave aus dem Mittagsdunst auf. Fischerboote kreuzten zwischen der Insel und dem Festland.
Sie durchfuhren mehrere Ortschaften, bis sie schließlich die Stadt St-Marc erreichten. Hier war nichts mehr von der Hektik der Hauptstadt zu spüren. Nur wenige Fahrzeuge befuhren die schlecht ausgebesserten Straßen. Mitchard schien sich hier auszukennen. Ohne zögern lenkte er das Fahrzeug durch die Stadt, wobei er so oft abbog, dass Abby jedes Orientierungsgefühl verlor. Schließlich erreichten sie ihr Ziel im nördlichsten, ‚Wespentor’ genannten Teil der Stadt. Vor einer baufälligen Kirche mit kleinem Glockenturm und spitzen Giebeln hielt Jean an.
„Hier wohnt Ihr Freund?“, fragte Abby erstaunt.
Mitchard deutete auf ein winziges Haus, das sich an die Kirche schmiegte. „Mein Freund ist Priester.“
Mehr sagte er nicht. Erklärungen hielt er anscheinend für überflüssig. Mitchard verließ den Wagen und Abby folgte ihm durch ein rostiges Tor in der Kirchenmauer. Das Tor ächzte in den Angeln, schwang aber problemlos auf. Der Weg war mit weißem Kies bestreut. Die Steine knirschten unter ihren Füßen, während sie den kleinen Hügel zum Haus hinaufgingen.
Sie hatten den Eingang noch nicht erreicht, als die Tür aufflog und ein Mann im Türrahmen erschien. Er war groß und wuchtig, bestimmt über 180 cm groß, mit einem mächtigen Bauch, der sich unter seiner Soutane spannte. Das graue, fast schon weiße Haar fiel ihm in Locken bis auf die Schultern. Auf dem feisten Gesicht, das auf Abby irisch wirkte, lag ein freundliches Lächeln, als er die Arme ausstreckte, so als wolle er sie beide gleichzeitig umarmen. Abby betrachtete ihn ausgiebig. Sie sah die fleischige Nase mit den geplatzten Äderchen an den Seiten. Die wulstigen Lippen hatten in der Mitte einen Spalt, als habe der Mann irgendwann einmal zu heftig auf ein Stück Holz gebissen. Die Augen des Priesters lagen unter buschigen Brauen und waren so grau wie seine Haare. Insgesamt strahlte Mitchards Freund Ruhe und Kraft aus. Abby fand ihn auf Anhieb sympathisch.
„Hallo Jean“, dröhnte die Stimme des Priesters ihnen entgegen.
Abby sah, wie ein breites Grinsen auf Mitchards Gesicht erschien.
„Hallo Bob“, antwortete er.
„Schön, dass du mal wieder vorbeischaust.“
„Du bist noch fetter geworden seit dem letzten Mal.“
Der Priester klopfte mit beiden Händen auf seinen Bauch. „Das liegt nur an Mama Kokos gutem Essen. Du kennst sie ja. Erstens schmeckt es hervorragend und zweitens gibt sie niemals Ruhe, bevor man nicht mindestens zweimal nachgeschöpft hat.“
Mitchard lachte. „Ja, ich kenne sie. Wo ist Mama Koko?“
„In der Stadt. Einkäufe erledigen. Wenn du es nicht eilig hast, wirst du sie später noch sehen. Aber jetzt sag mir, wen du mir da mitgebracht hast.“
„Das ist Abby Summers aus England.“
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