Traumtrunken
gelangen. Und da sah er sie. Weit hinten zwischen den Gräbern.
Im ersten Moment war er beruhigt, weil er befürchtet hatte, sie sei nach Hause gelaufen. Doch als er näher kam, bemerkte er, dass es Kindergräber waren. Seine Armhaare stellten sich auf, als ein Windzug darüberfuhr. Alle Kraft wich aus ihm und sein Magen rebellierte bei dem Anblick der viel zu klein geratenen Grabstätten, die so liebevoll geschmückt waren.
Auf dem Grab, vor dem Michaela stand, drehte sich eine Windmühle in Intervallen. Alt und verwittert war nur am Kopf ein bisschen gelbe Farbe übrig geblieben.
Atze starrte sie an und die Bilder in seinen Augen verschmolzen mit seinen Tränen zu einem bunten Farbenspiel.
Er zwinkerte ein paar Mal, trat näher an Michaela heran und legte seinen Arm um sie. „Ich hab dich gesucht.“
„Ich hab das Grab von meinem Bruder gefunden“, sagte Michaela leise und zeigte auf den Namen. Tränen quollen aus ihren Augen und liefen ihre Wangen hinab. „Hätte ich doch nur früher daran gedacht!“
Atze hatte das Gefühl, dass Michi auch ein bisschen glücklich war. Er hielt sie fester und las, was auf dem Grabstein geschrieben stand:
Benedikt Pannek
* 4.11.1977
† 4.11.1977
Geburts- und Sterbetag stimmten überein. Atze schlug das Herz bis zum Hals.
Sah sie es nicht? Oder hatte sie es ihm verschwiegen, ihm wieder nur die halbe Wahrheit erzählt?
Verunsicherung. Wut. Verzweiflung.
Was, wenn sie es nicht wusste? Sollte er sie darauf aufmerksam machen?
Doch bevor Atze den Gedanken zu Ende denken konnte, platzten seine starken Emotionen aus ihm heraus.
Michaela stutzte kurz.
Nachdem sie begriffen hatte, wovon er redete, machte sie sich von ihm los und sah ihn verunsichert an.
Atze merkte, wie es in ihr arbeitete, wie sie abwechselnd immer wieder auf den Grabstein und dann in Atzes Gesicht sah, wie sie sich die Dinge zurechtlegte, wie sie begriff.
Dann fiel sie unsanft vor dem Grab auf ihre Knie und fing an zu jammern und zu weinen.
***
Michaela brauchte Atze jetzt und er spürte das. Er hockte sich hinunter zu ihr und drehte sie in seinen Schoß, so dass sie ihren Oberkörper auf seinen Knien ablegen konnte.
Dieser Halt tat ihr gut. Wie ein warmer Mantel legte sich Atze um ihre Gefühle und hüllte sie in Sicherheit.
Sie konnte nicht aufhören zu weinen, es erleichterte sie.
Es war, als hätte sich nach langer Zeit ein Knoten in ihrem Inneren gelöst.
Die Antwort auf ein Rätsel, nach dessen Lösung sie gar nicht gesucht hatte.
Es war so ein starkes Gefühl. Viel stärker als in all den Jahren.
Noch bevor sie denken konnte, hatte sie einen Teil von sich verloren. Wie hatte ihr das so bewusst sein können?
Tränen der Trauer und des Glückes liefen in Atzes Schoß und vermischten sich mit seinen Worten.
„Ich hab dich lieb, Michi. Alles wird gut.“
Und genau das war es, was sie empfand. Dass erst jetzt alles gut werden konnte.
Dann fing sie an, sich zu fragen. Und mit diesen Fragen und dem Begreifen regneten Tränen vom Himmel und zwangen sie beide, den Friedhof schnell zu verlassen.
***
Den ganzen Samstag verbrachte Michaela im Bett. Sie hatte keinen Appetit. Wenn Atze ständig mit etwas anderem ins Zimmer kam, hatte sie meist dankend abgelehnt und nur die Getränke angenommen.
Langsam beruhigte Michaela sich. Sie setzte sich auf, schlang die Arme um die Knie, stützte das Kinn auf und wippte hin und her.
Es musste schlimm für ihre Mutter gewesen sein. Ein Baby gleich nach der Geburt zu verlieren.
Womöglich war es in ihren Armen gestorben.
Aber sie hatte ja noch ein Kind. Sie hatte ja noch mich. Hatte das gar nicht gezählt?
Michaela versuchte, ihre Mutter zu verstehen. Sie selbst wusste, wie schlimm es war, wenn man etwas vermisste, auch wenn sie erst heute begriffen hatte, woher ihre Traurigkeit kam. Doch ihre Mutter hatte es gewusst. Sie hatte sich darauf gefreut, ein Mädchen und einen Jungen zu gebären.
Hat sie mich deshalb so wenig lieben können?
Benedikt. Er hatte einen Namen bekommen, auch wenn sein Leben vermutlich nicht länger gedauert hat, als ein paar Atemzüge.
Michaela weinte wieder. Sie wischte sich die Tränen mit ihrer Bettdecke weg und legte sich auf den Rücken.
Zärtlich strich sie über ihren Bauch. Bis jetzt hatte sie sich das Geschlecht nicht sagen lassen.
Michaela erschrak. Was, wenn es ein Junge werden würde?
Nein, sie spürte keinen Groll. Da waren nur Vorfreude und Liebe.
Und trotzdem, diese Gedanken drangen immer
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