Traumtrunken
gesteckt.
Michaela schaute nach unten. Sie könnte einen Strauß frische Rosen mit ans Grab nehmen.
Dieser Gedanke gefiel ihr. Sie roch die Rosen regelrecht. Der Duft belebte ihre Sinne.
Das Telefon klingelte und Michaela erschrak. Sie hatte Rico vergessen! Sie hatten ausgemacht, dass er heute nicht allein heimkommen, sondern dass sie ihn abholen würde. Schnell schlüpfte sie im Flur in ihre Sandaletten, zog den Schlüssel von der Tür und die Tür hinter sich zu. Sie rannte hinunter, über den Zebrastreifen, und erst kurz vor der Eingangstür wurde sie langsamer, weil ihr der Atem fehlte und ihr einfiel, dass sie gar nicht auf die Uhr gesehen hatte. Viertel vor fünf. Gerade noch rechtzeitig, dachte sie. Am Telefon muss jemand anderes gewesen sein.
***
Atze ging nicht besonders gern auf Friedhöfe, doch dass Michaela ihn heute mitnehmen wollte, freute ihn.
Sie hatten den letzten Bus gerade verpasst und liefen bis zur Straßenbahn. Michaela schwieg.
Atze konnte das verstehen. Hin und wieder drückte er ihre Hand und sah zu ihr hinüber. Dann lächelte sie zaghaft.
In der Tram überlegte Atze, ob er ein Gespräch anfangen und das unangenehme Schweigen unterbrechen sollte, doch Michi sah nicht so aus, als ob sie sich gern unterhalten hätte.
Atze beobachtete, wie die Häuserfronten an ihm vorüberzogen, drehte seinen Kopf und versuchte, ein Haus mit seinen Blicken einzufangen. Doch kaum hatte er es fixiert, war die Straßenbahn weitergefahren.
Er dachte an die schwül-heiße Woche, die er hinter sich gebracht hatte, drauf und dran, sich ein Zimmer zu nehmen, weil es im Auto kaum auszuhalten war.
Der Geiz hatte ihn davon abgehalten. Stattdessen war er einfach ein zweites Mal duschen gegangen.
Als er am Dienstag spärlich bekleidet zurück zum Parkplatz kam, sah er, dass sich die zwei Typen, die ihm vorher beim Essen begegnet waren, mit Isomatten auf die Wiese gelegt hatten. Keine schlechte Idee, dachte Atze. Aber viel zu laut für ihn.
Er hatte überlegt, die Klimaanlage für eine Weile einzuschalten, doch wahrscheinlich hätte er sich dann auch noch erkältet.
Gestern Abend auf dem Rückweg war das Thermometer kontinuierlich gefallen. Es war immer noch warm gewesen, aber auszuhalten, und Atze hatte sich auf nichts mehr gefreut, als auf sein kühles Schlafzimmer und sein eigenes Bett.
Nächste Woche musste er ins Elsass.
Hoffentlich war es da angenehmer.
„Ich fahr am Montag Straßburg an“, sagte er zu Michaela, die zusammenzuckte.
„Wenn ich nicht noch 'ne Extratour aufgedrückt bekomme, bin ich sicher früher zurück.“
„Das glaub ich erst, wenn es soweit ist.“ Michi zog den Mundwinkel schief.
„Wollen wir vielleicht in die Berge?“
Michaela atmete tief, doch sie antwortete nicht.
Atze ließ Michaelas Hand los, nahm die Rosen in seine rechte und wischte seine linke Hand an seiner Hose ab. Sie waren am Eingang des Friedhofs angekommen und Michaela schien sich hier gut auszukennen. Zielgerichtet lief sie die Wege entlang, an Reihen von Gräbern mit mannshohen Grabsteinen und Steinkreuzen vorbei. Atze hätte sich vermutlich verlaufen.
Irgendwann blieb Michaela vor einem Grab mit einem Holzkreuz stehen.
Heinz und Elvira Pannek. Atze musste schlucken. Hier lag also Michaelas Vergangenheit.
Dass ihr Großvater im gleichen Grab begraben war, hatte Atze nicht gewusst. Er war früh gestorben.
„Das Grab sieht gepflegt aus“, sagte Atze, um überhaupt etwas zu sagen. Er blickte um sich, sah ein paar Meter weiter eine Bank und gab Michaela die Blumen. „Ich setz mich da rüber“, sagte er.
Von Weitem beobachtete er sie. Dann blickte er um sich.
So viel Prunk! Da wo er herkam, waren die Grabsteine klein und zweckmäßig. Und das fand er ausreichend.
Er fragte sich, wer sich um das Grab von Michaelas Großmutter kümmerte. Michaela kam ja nicht oft hierher.
Oder doch?
Ob ihre Mutter für den Unterhalt sorgte?
Das konnte er sich nicht vorstellen. Gut, er kannte sie nicht, aber ein Mensch, der sein Kind weggibt und dann das Grab seiner Mutter pflegt? Atze schüttelte den Kopf.
Als er sich wieder umdrehte, war Michaela verschwunden. Er stand auf, schaute in alle Richtungen und ging zu der Stelle zurück, an der sie eben noch gestanden hatte.
Sie war nicht zu sehen.
Eilig ging Atze den Weg zurück bis zur Wasserstelle. Vom nächsten Quergang aus konnte er weit in beide Richtungen blicken.
Er lief nach rechts, verließ diesen Bereich des Friedhofes, um zum nächsten zu
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