Traumzeit
und griff nach dem nächsten Pfeil. Dann vergrößerte sie den Abstand auf neunzig Meter, schoß und traf ins Schwarze. Sie würden sich nicht lange freuen können. Sie ahnten nämlich ebensowenig wie die jungen und hübschen Rivalinnen im Rennen um MacGregor, daß Pauline eine geheime Trumpfkarte besaß, die ihr den Sieg garantierte.
Pauline wußte zwei Dinge über Colin, die niemand außer ihr kannte. Erstens, er würde nie wieder eine Frau lieben. Sie war in der Nacht, in der Christina starb, bei ihm im Zimmer gewesen und hatte gesehen, was dieser Verlust für ihn bedeutete. Die anderen jungen Frauen im Distrikt mochten sich der Illusion hingeben, es würde ihnen gelingen, daß Colin sich in sie verliebte. Pauline wußte, daß es für ihn keine zweite Frau geben konnte, die er lieben würde. Pauline besaß noch einen Vorteil: Auch sie würde nie wieder lieben können. Es konnte ihr also nur recht sein, wenn Colin sich nicht in sie verliebte. Sie wollte nur seinen Namen, seinen Reichtum, die Stellung als seine Frau, und sie wollte wie Colin Kinder.
»Du weißt doch, daß Colin MacGregor wieder heiraten will, Pauline«, sagte Louisa. »Er hat meinem Mann erklärt, er werde seinen Sohn nicht auf eine Schule schicken, sondern ihn auf Kilmarnock erziehen lassen. Der Junge braucht also eine Mutter.«
Louisa beobachtete das Gesicht ihrer Freundin genau, weil sie hoffte, einen Riß in der unbewegten Maske zu entdecken. Pauline hielt ihren Körper aufrecht und hatte ihn völlig unter Kontrolle. Wann immer sie an einem Turnier teilnahm, lobte man Paulines ›eindrucksvolle Haltung und hervorragende Körperbeherrschung‹, wie Frank es in brüderlicher Bewunderung einmal in der
Times
ausgedrückt hatte. ›Miss Downs, die zum sechstenmal Mal den Meisterschaftspokal gewonnen hat, begeisterte ihre Zuschauer und versetzte sie in Staunen und Bewunderung. Sie wirkte wie eine Artemis unserer Zeit.‹ Falls Pauline darunter litt, daß es ihr nicht gelungen war, den Mann zu bekommen, auf den sie es abgesehen hatte, wie jeder wußte, verbarg sie es sehr geschickt. Auf Louisa wirkte sie so selbstbewußt und überlegen wie immer.
»Auch wenn er mit Wilma Todd gesehen wurde«, fuhr Louisa fort, »möchte ich wetten, daß Verity Campbell das Rennen macht. Schließlich ist Verity erst neunzehn und die arme Wilma fast vierundzwanzig. Ein Mann, der Kinder will, sucht sich natürlich eine junge Frau.«
Pauline wurde in nicht allzu ferner Zeit sechsundzwanzig. Sie schoß unbeirrt den nächsten Pfeil ab.
Sie traf wieder ins Schwarze.
»Ich habe zufällig Mrs. Gramercy getroffen«, sagte Louisa. »Stell dir vor, sie hat mir gesagt, daß Maude Reed ein Frauenleiden hat …«
Während Louisa weiterredete, wurde Pauline bewußt, daß mehr als ein Jahr vergangen war, seit ihre Freundin während der Typhusepidemie ihr ungeborenes Kind verloren hatte und noch nicht wieder schwanger war. Pauline fragte sich, ob Louisa möglicherweise inzwischen das Geheimnis einer Empfängnisverhütung kannte.
»Poll Gramercy hat mir noch etwas erzählt«, Louisa ließ Pauline dabei nicht aus den Augen, »Joanna Westbrook ist schwanger.«
»Ja«, sagte Pauline, »ich weiß.«
Pauline konzentrierte sich auf den nächsten Schuß. Kalte Wut hatte sie erfaßt, als sie die Neuigkeit von Joannas Schwangerschaft erfuhr. Wieder einmal verstand sie den Wahnwitz nicht, der sie dazu veranlaßt hatte, in einem Augenblick der Selbstlosigkeit auf Hugh zu verzichten. Es mußte an der erdrückenden Atmosphäre der Krankheit und des Todes gelegen haben, sagte sie sich. Inmitten so vieler neuer Gräber war Pauline edler Verzicht angemessen erschienen. Aber jetzt wollte sie nicht länger mit dem Gefühl des Bedauerns leben. Bedauern empfand Pauline als Zeitverschwendung, es führte zu nichts. Hugh war verheiratet – daran ließ sich nichts mehr ändern.
Aber ist er glücklich mit seiner kleinen englischen Braut? fragte sich Pauline skeptisch.
»Soweit ich weiß«, fuhr Louisa fort, »ist Angus McCleod bei dir gewesen.«
Pauline seufzte, ließ den Bogen sinken und bedeutete dem Diener, ihr ein Glas Limonade zu bringen.
Sie dachte an die Männer, die angefangen hatten, um sie zu werben, als die Auflösung der Verlobung mit Hugh bekannt wurde. Sie erschienen mit Versprechungen und eindeutigen Angeboten; es kamen große und kleine, dicke und dünne, ältere und jüngere, aber alle waren sie langweilig. Manchmal hätte Pauline es vorgezogen, nicht zu heiraten. Sie genoß
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