Traumzeit
Känguruhs.
»Also gut«, sagte Colin zu den Männern, die in der Nähe der Jagdbeute standen, »verbrennt sie. Wir haben für heute genug geschossen.«
Für Judd war das der schlimmste Teil – sie töteten die Tiere nicht, um das Fleisch oder die Felle zu nutzen, sondern aus rein sportlichem Vergnügen. Judd erinnerte sich noch gut daran, wie es früher gewesen war, als seine Mutter noch gelebt hatte. Damals waren viele Gäste nach Kilmarnock gekommen. Es gab große Jagden, bei denen bis zu vierhundert Känguruhs geschossen und in einem Riesenfeuer verbrannt wurden. Manchmal begann das Verbrennen bereits, wenn ein Teil der Tiere noch lebte. Dann hörte man auf dem Heimritt ihre durchdringenden Todesschreie.
»Mach dir nichts daraus, Judd«, sagte Colin, »man kann nicht immer gewinnen. Zumindest nicht in deinem Alter. Du wirst mit der Zeit mehr Übung bekommen. Ich wette, das nächste Mal triffst du das Weibchen. Es sah so aus, als hätte sie ein
Joey
im Beutel. Das wird dann eine doppelte Jagdtrophäe!«
Judd kämpfte mit den Tränen, aber aus Gründen, von denen sein Vater nichts ahnte. Schließlich ließ er das Gewehr fallen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann, heftig zu schluchzen.
Colin kniete sofort nieder und nahm den Neunjährigen in die Arme. »Schon gut, mein Sohn«, sagte er tröstend, »ich weiß, wie dir jetzt zumute ist. Ich war in deinem Alter auch niedergeschlagen, wenn mein Vater mich mit auf die Jagd nahm, und ich nicht so gut schießen konnte wie die anderen Männer. Aber du bist noch ein kleiner Junge. Ich verspreche dir, du wirst einmal ein Meisterschütze werden. Nun komm schon, hör auf zu weinen.«
Der kleine Judd wischte sich mit der Hand die Nase.
»Das ist schon besser«, sagte Colin. Aber als sein Sohn die Hand an der Hose abwischte, runzelte Colin MacGregor die Stirn und fragte: »Wo ist dein Taschentuch? Hier. Nimm das, um dir die Nase abzuwischen. Man macht das nicht mit der Hand. Das weißt du doch!«
Als Judd das Taschentuch seines Vaters nahm und sagte: »Ach scheiß drauf!« sah ihn Colin entgeistert an und fragte streng: »Wo hast du
das
gelernt?«
»Das sagen die Viehhüter.«
»Du bist kein Viehhüter, und du nimmst solche Worte nicht in den Mund! Hast du mich verstanden?«
Judd nickte mürrisch. Colin faßte seinen Sohn bei den Schultern. »Hör mir gut zu. Eines Tages wirst du der Laird von Kilmarnock sein. Dann bist du ein Lord und ein Gentleman. Gentlemen benutzen solche Worte nicht.«
Colin betrachtete das Gesicht von Judd – er sah so sehr seiner geliebten Christina ähnlich. Wieder einmal dachte er: Der Junge braucht unbedingt eine Mutter.
Sosehr Colin diesen Gedanken auch haßte, er mußte sich den Tatsachen stellen. Christina war seit vierzehn Monaten tot. Die Zeit war reif, um ernsthaft ans Heiraten zu denken. Er durfte nicht riskieren, Judd zu verlieren und dann keinen Erben zu haben. Colin weigerte sich zu glauben, all die harte Arbeit, sein Lebenswerk könne umsonst gewesen sein.
Als der junge Colin MacGregor nach Australien gekommen war und keine herrschende Klasse und keine Bauern vorgefunden hatte, sondern nur ein gesellschaftliches Kunterbunt ohne klar definiertes Oben und Unten, wußte er, daß sich auch hier eine Aristokratie herausbilden würde. Er hatte seine Burg als einen Vorposten der Zivilisation in einem wilden, halbkultivierten Land gebaut und als eine Erinnerung für das einfache Volk, daß ein Lord in ihrer Mitte lebte. Er hatte hart gearbeitet, um Kilmarnock einen Namen zu verschaffen, der Macht und Einfluß bedeutete – ein Name, wie Colin felsenfest glaubte, der den einfachen Mann mit Stolz erfüllte, weil er in seiner Nähe lebte. Dieser Name durfte nicht aussterben.
Er nahm Judd an der Hand und ging mit ihm zum Zelt mit den Erfrischungen. Colin überragte alle Diener und Stallburschen. Er war ein großer, aristokratischer Mann und wirkte elegant in seinem Pullover mit Zopfmuster, der Tweedjacke, der Moleskinhose und den auf Hochglanz polierten schwarzen Reitstiefeln. An Colin MacGregor sah man kein Staubkörnchen, nichts beeinträchtigte seine makellose Erscheinung. Die Farmarbeit überließ er seinem Vormann. Er beschäftigte sich nur mit Dingen, die einem Gentleman entsprachen.
Ein Diener reichte ihm einen Whiskey. Als Colin sich umdrehte, sah er seinen Vormann Locky McBean auf das Zelt zureiten. Der Mann saß ab, zog den Hut und drehte ihn verlegen in den Händen. Colin mochte den Mann nicht, aber er brauchte
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