Traumzeit
weiter. ›Millicent war außer sich. Schließlich war es Naomis Kind, und Millicent liebte Naomi sehr. Aber was aus Naomi wurde, haben wir nie erfahren. Ich vermute, sie ist vor langer Zeit irgendwo in Australien gestorben.
Als Ihre Mutter größer wurde, wunderte sie sich manchmal darüber, daß sie sich überhaupt nicht an ihre Eltern erinnerte. Wenn sie ihre Tante danach fragte, sagte Millicent jedesmal, sie habe als Sechsjährige ein schweres Fieber gehabt. Das stimmte natürlich nicht. Über den wahren Grund für den Gedächtnisverlust Ihrer Mutter konnten Millicent und ich uns nie klar werden. Aber es muß etwas Schreckliches gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß die arme kleine Emily unter Alpträumen litt. Sie hatte eine beinahe verrückte Furcht vor Hunden und Schlangen. Ich dachte immer: Sie muß in Australien etwas Entsetzliches gesehen haben. Millicent ging der Sache nicht nach. Ich glaube, sie fürchtete sich zu sehr vor dem, was sie herausfinden könnte.
Ich bedaure, Mrs. Westbrook‹, schloß Elsie Dobson, ›aber das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Entweder habe ich den Rest vergessen, denn mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war, oder es gibt wirklich sonst nichts mehr zu berichten. Aus Ihrer Mutter wurde eine hübsche junge Dame, und es tat uns allen leid, als sie nach Indien ging, denn wir fürchteten, wir würden sie nie mehr wiedersehen. Etwas muß ich Ihnen noch sagen, Mrs. Westbrook. Als ich vom Tod Ihrer Mutter erfuhr, war ich einerseits tief betroffen, andererseits jedoch merkwürdigerweise nicht. Wenn ich Ihre Mutter ansah, hatte ich immer die unbestimmte Vorstellung, ihr sei ein tragisches Schicksal bestimmt. Ich weiß nicht, weshalb ich auf diesen Gedanken kam. Ich kann es nur auf etwas zurückführen, das ich vor langer Zeit einmal gehört haben muß, woran ich mich inzwischen jedoch nicht mehr erinnern kann.‹
Der Brief war unterschrieben mit: ›Hochachtungsvoll, E. Dobson.‹
Joanna starrte auf die letzte Zeile. Die einzige Frau, die so viele wichtige leere Stellen hätte ausfüllen können, war tot. Und das Gedächtnis des einzigen anderen Menschen, der Emily offenbar in ihrer Kindheit gekannt hatte, versagte.
Sie las den Brief noch einmal, um festzustellen, ob ihr etwas entgangen war, und ihr Blick blieb an zwei Sätzen hängen: ›Sie muß in Australien etwas Entsetzliches gesehen haben‹ und ›Wenn ich Ihre Mutter ansah, hatte ich immer die unbestimmte Vorstellung, ihr sei ein tragisches Schicksal bestimmt‹.
Also selbst damals, als Emily unter Menschen lebte, die keine Ahnung von ihrer Geschichte oder ihren Lebensumständen hatten, die unmöglich etwas von Gift-Gesängen oder Flüchen australischer Ureinwohner wissen konnten, selbst damals hatte eine Mrs. Dobson in Bury St. Edmunds das unheilvolle Schicksal geahnt, das Emily überall durch die Welt folgte.
Joanna wollte den Brief gerade falten und wieder in den Umschlag stecken, als sie noch ein Blatt bemerkte. Sie hielt es ans Licht und stellte fest, daß Mrs. Dobson eine Nachschrift beigelegt hatte.
›Nachdem ich den Brief noch einmal durchgelesen habe, wird mir klar, Mrs. Westbrook, daß zwei Dinge fehlen, die Sie vielleicht interessieren werden. Sie baten um Informationeh darüber, in welchem australischen Hafen Ihre Großeltern an Land gegangen sind. Das weiß ich nicht. Aber vielleicht hilft es Ihnen, daß sie 1830 auf einem Schiff mit dem Namen
Beowulf
gefahren sind. Daran erinnere ich mich und bin mir auch sicher, denn die Beowolf-Sage hat mich schon immer fasziniert, und ich fand den Namen des Schiffes sehr ominös. Die zweite Sache, die vielleicht von Interesse ist: Nachdem Emily etwa ein Jahr bei Millicent lebte, wurde die seltsame kleine Fellpuppe beschädigt, die sie bei ihrer Ankunft mit dem Schiffskapitän bei sich getragen hatte – ich weiß nicht mehr, was geschah. Aber das Kind wurde deshalb geradezu hysterisch, und Millicent rettete den heiß geliebten Rupert, indem sie die Puppe säuberte und die Nähte verstärkte. Dabei entdeckte sie, daß in dem Füllmaterial etwas versteckt war. Es handelte sich um einen recht großen, blitzenden Edelstein, um einen Opal, wie wir später erfuhren. Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas nützt, Mrs. Westbrook, und ich weiß nicht, was mit dem Opal geschah. Aber ich hoffe, daß ich Ihnen auf meine bescheidene Weise helfen konnte.‹
Joanna starrte auf die letzten Zeilen. Der Opal! Er war in Rupert versteckt gewesen!
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