Traumzeit
die unterste Schreibtischschublade und holte ein verschlossenes Metallkästchen heraus. Dann ging sie zu ihrer Schmuckschatulle, entnahm ihr einen kleinen Schlüssel, öffnete damit das Kästchen und nahm den Feueropal heraus.
Während sie in seine feurigen roten und grünen Tiefen blickte, fragte sie sich: In welchem Zusammenhang steht er mit Karra Karra? Hatte ihr Großvater ihn vielleicht dort gefunden? War das der Grund für den plötzlichen Drang ihrer Mutter, nach Australien zurückzugehen, weil es dort noch etwas ›anderes‹ gab, das ›andere Erbe‹, bei dem Joanna nie hatte herausfinden können, worum es sich handelte. Hatte John Makepeace möglicherweise eine Opalmine entdeckt? Bezog sich die Besitzurkunde darauf? Hatte Joanna in Wirklichkeit mehr geerbt als ein Stück Land? War es vielleicht etwas unvorstellbar Wertvolles?
Joanna hielt den Opal in der Hand. Sie spürte seine Wärme, als habe er eine eigene Energie, und sie dachte: Was bist du? Woher bist du gekommen? Welchen Zweck hast du? Sind deine Kräfte gut oder böse?
Es war Zeit, sich den Aufzeichnungen ihres Großvaters zuzuwenden. Ganz sicher lagen die Antworten in diesen geheimnisvollen Papieren.
Sie legte das Notizbuch mit dem Kurzschriftschlüssel vor sich auf die Schreibtischplatte, daneben die erste Seite der Aufzeichnungen und daneben ein weißes Blatt. Sie tauchte den Federhalter in das Tintenfaß, betrachtete das erste Symbol und fand es in Giles Staffords Buch.
Und dann, mit einem letzten Blick auf den Opal, der im Lampenschein geheimnisvoll schimmerte, ging sie ans Werk.
Kapitel Dreiundzwanzig
1
Joanna war verwirrt. Inzwischen übertrug sie seit einem Monat die Notizen ihres Großvaters, und bisher hatten ihre Bemühungen wenig mehr ans Licht gebracht als einen eher trockenen Bericht von John Makepeace über den Zug durch die Wildnis, den Busch und die Wüste. John und Naomi Makepeace hatten sich der Sippe eines Häuptlings mit dem Namen Djoogal angeschlossen. Joanna hatte aber keine Hinweise darauf gefunden, wo in Australien diese Ureinwohner lebten oder zu welchem Stamm sie gehörten. Soweit sie bisher feststellen konnte, gaben die Aufzeichnungen auch keinerlei Aufschluß über die Ursache der Ängste ihrer Mutter. Außer den Dingos, die die Sippe als Haustiere hielt, wurden Hunde nicht erwähnt, und von Schlangen erfuhr man kaum mehr, als daß die Aborigines die Regenbogenschlange verehrten.
Der bisher einzig bedeutsame Anhaltspunkt war die Aussage, daß die Känguruh-Ahne das Totem der Sippe war. Hier gab es also einen Zusammenhang, den Joanna bereits für ihr Leben auf Merinda als bedeutsam erkannt hatte, ohne jedoch mehr zu wissen.
Joanna lehnte sich zurück und bewegte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, um die Spannung in ihrem Nacken zu lösen. Jeden Nachmittag, wenn sie sich mit dem Kurzschriftschlüssel und den Aufzeichnungen ihres Großvaters an den Schreibtisch setzte, rechnete sie damit, etwas Aufregendes zu entdecken, hoffte sie auf einen Durchbruch. Und jeden Abend stand sie enttäuscht wieder auf.
Es war spät. Abgesehen von Hugh, der zu den Koppeln hinausgeritten war, um die neugeborenen Lämmer zu bewachen, schliefen alle. Im Haus herrschte Stille. Die McNeals waren vor zwei Wochen abgereist, die Schur war vorüber und Merinda hatte wieder zu einer ruhigen Routine zurückgefunden. Bald sollten die Vorbereitungen für den Umzug in das neue Haus beginnen. Sobald der Innenanstrich fertig war, würden Joanna und ihre Familie in dem neuen Haus am Fluß wohnen und sich von diesem hübschen, alten Rindenhaus verabschieden.
Trotz der friedlichen und stillen Nacht stand Joanna unter großen Spannungen. Sie wurde das Gefühl nicht los, es sei ein schlechtes Omen, daß John Makepeace bisher über keine gefährlichen oder erschreckenden Dinge berichtet hatte. Außerdem beunruhigte Johanna die Nachricht, daß in letzter Zeit die Dingos bis nahe an Merinda herankamen.
»Ezekial sagt, er hat sie ein paar Meilen flußaufwärts gesehen«, hatte Hugh ihr an diesem Morgen berichtet. »Ich werde kein Risiko eingehen. Ich habe zusätzliche Männer auf Dingo-Wache hinausgeschickt. Sorge dafür, daß Adam und Lisa vom Fluß wegbleiben. Die wilden Hunde sind durch die Dürre in schlechter Verfassung, und das macht sie tollkühn.«
Dingos …! Joanna seufzte, während sie die Insekten beobachtete, die um den Zylinder der Petroleumlampe flatterten. Wilde Hunde …!
Sie verfolgten sie nachts im Traum und wurden nun
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