Traumzeit
arbeitet nicht vorbehaltlos mit mir zusammen. Sie verrät nichts über das Wesen dieser Riten. Sie behauptet, den Frauen versprochen zu haben, daß sie die Geheimnisse wahrt. Aber sie versichert mir, daß es sich um höchst ernsthafte, fromme Rituale handelt. Sie fügt hinzu, wenn die Frauen ohne die Männer zusammenkommen, sei es um Nahrung zu suchen oder wegen religiöser Handlungen, dann sei das für sie eine Zeit starker weiblicher Verbundenheit und Spiritualität.
Naomi mag recht haben. Ich weiß es nicht. Aber ich ärgere mich darüber‹, schloß er, ›daß sie mir diese Geheimnisse vorenthält. Ich habe ihr gesagt, daß ich nur im Interesse wissenschaftlicher Forschung und aus rein rationalen Gründen wünsche, daß die Frauen mich bei einem dieser geheimen Rituale zulassen.‹
Joanna legte den Federhalter aus der Hand. Sie spürte, wie die Nacht um sie herum in geheimnisvolle Bewegung geriet. Das stille Haus schien sich zu regen, zu bewegen und zu seufzen. Sie las den Satz noch einmal, den sie gerade geschrieben hatte. Plötzlich ahnte sie, was kommen würde.
*
Lisa wurde plötzlich wach. Es war dunkel. Sie lag im Bett und lauschte auf die Stille im Haus. Sie überlegte, was sie geweckt hatte. Dann wurde es ihr bewußt: Knopf lag nicht auf dem Bett.
Sie war so an das schwere Gewicht seines Körpers gewöhnt, daß das plötzliche Fehlen des Drucks sie aufgeweckt hatte. Knopf stand an der Verandatür und kratzte mit der Pfote. »Willst du raus?« fragte Lisa.
Sie kannte das, denn manchmal lief er nachts in die Büsche. Deshalb schob Lisa den Riegel der Glastür zurück und dachte, der blinde Schäferhund werde nach ein paar Minuten zurückommen. Zu ihrer Überraschung rannte er jedoch knurrend durch die Tür, über die Veranda und verschwand im Dunkeln.
»Knopf!« rief sie. »Komm zurück!« Sie lief hinter ihm her.
*
Die Nacht war so still, daß man nur das Geräusch von Joannas Federhalter hörte, der über das Papier glitt. Sie kannte den Kurzschriftschlüssel inzwischen auswendig und mußte das Notizbuch kaum noch in Anspruch nehmen. Sie schrieb schnell.
›Die Sippen versammeln sich seit Tagen hier in Karra Karra zu einem Treffen des ganzen Stamms‹, hatte John Makepeace notiert. ›Man hatte mir gesagt, daß es ein großer Stamm ist, aber ich hatte keine Vorstellung davon wie groß. Seit Wochen sind Sippen und Familien den Traumpfaden gefolgt und aus Norden und Süden, aus Osten und Westen an diesen Ort gekommen. Ich habe gehört, daß es ihr heiligster Ort ist: Karra Karra – der Berg des Lebens. Hunderte sind bereits hier, und es kommen immer noch mehr. Sie entzünden ihre Feuer, sie singen und tanzen. Verwandte, die sich jahrelang nicht gesehen haben, feiern das Zusammentreffen. Alte Freundschaften werden erneuert, Ehen werden geplant, sie tauschen und handeln. Djoogal spricht das Urteil über Vergehen, die ein Jahr lang ungesühnt geblieben waren – meist werden Strafen verhängt, weil jemand ein Tabu übertreten hat. Es ist eine große, laute, lebhafte Menge. Ich bin mir voll Staunen bewußt, daß Naomi, ich und die kleine Emily als die ersten Weißen ein solches Schauspiel erleben.
Morgen wird Naomi an dem heiligsten und geheimsten aller Rituale teilnehmen. Sie spricht kaum darüber und verrät mir nur, daß es sich um ein Ritual für Mütter und Töchter handelt. Naomi ist in letzter Zeit zunehmend schweigsamer geworden. Sie war mit den Frauen unterwegs und hat den Lehm und die Farben gesammelt, mit denen sie ihre Körper bemalen werden. Die Frauen haben sie die geheimen Lieder gelehrt, die Tabus, die sie befolgen muß, und sie haben sie in die Mysterien des Rituals eingeführt. Naomi hat mir gesagt, daß sie heute nacht nicht mit mir schlafen kann. Sie muß für das Ritual rein sein.‹
Joanna fiel auf, daß der Ton ihres Großvaters sich änderte. Er konnte seine Gefühle nicht mehr unterdrücken. Sie spürte seinen Neid und die Gereiztheit darüber, ausgeschlossen zu sein.
›Ich habe Naomi versichert, ich werde nichts verraten, ganz gleich, was sie mir sagt. Sie weiß doch, daß ein Geheimnis bei mir gut aufgehoben ist. Aber sie weigert sich, meine Fragen über das Ritual zu beantworten. Ich habe sie daran erinnert, daß sie meine Frau ist und mir deshalb sagen muß, was sie tut. Ich habe ihr auch gesagt, daß sie mir rückhaltlos vertrauen kann. Ich verstehe nicht, was mit ihr geschehen ist. Sie gehorcht mir weniger und weniger. Die Autorität, die ich am Anfang unserer Ehe
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